Abschlussausstellung

Pressespiegel zur Ausstellung "Brisante Begegnungen"

17. November 2011 - 20. Mai 2012, Völkerkundemuseum Hamburg

Brisante Begegnungen mit Beuys (Rheinische Post, 25.10.2011)
Das Überleben der Anderen (Hamburger Abendblatt, 22.11.2011)
Kein Grundbuch, keine Grenze (taz, 23.11.2011)

Brisante Begegnungen mit Beuys

Das Museum für Völkerkunde Hamburg beschäftigt sich mit der Vielfalt nomadischer Lebenswelten. Und mit Künstlern, die sich mit der Idee des Nomadischen beschäftigen - wie Joseph Beuys. RP-Fotograf Gottfried Evers zeigt dazu in der Hansestadt die Fotos von Beuys vor Gnadenthal.
von Matthias Grass (Rheinische Post, 25.10.2011)

KLEVE/HAMBURG Sie galten als roh, als barbarisch und kulturfeindlich. Die Skythen, jenes legendäre, sagenumwobene Reiter- und Nomadenvolk der Antike. Einer von ihnen aber war kein Ignorant. Im Gegenteil: Ihm war die Weisheit der Natur von Geburt an gegeben. Anacharsis hieß der Mann, der ein Bruder des skythischen Königs Saulios war.

Geistreich, schlagfertig, neugierig sei er gewesen, sagt der antike Geschichtsschreiber Herodot. Später wurde Anacharsis das Pseudonym für einen vorurteilsfreien, kritischen Zeitgenossen. Solche sind bekanntlich unbeliebt – und auch die antike Sagengestalt wurde umgebracht. Sein königlicher Bruder soll ihn mit einem Pfeil getötet haben. Umgebracht wurde auch der Adlige Clooths vom Klever Schloss Gnadenthal, der sich als Redner des Menschengeschlechts den Vornamen Anacharsis gab und prompt auf dem Schafott landete, als die Revolution ihre Kinder fraß. Kritisch und vorurteilsfrei, aber auch nomadisch wie der gütige Skythe sah sich Joseph Beuys und signierte mit „JosephAnacharsis Cloothsbeuys“.

Beuys, Clooths und die Nomaden verbindet jetzt eine große Ausstellung im Hamburger Völkerkundemuseum in Zusammenarbeit mit der Universität Leipzig, wo es um die Beziehung der Sesshaften zu den Nomaden geht, aber auch um die Faszination, die Nomaden auf Sesshafte ausüben. Dabei wird auch Beuys seine Rolle spielen. Insgesamt soll die Ausstellung „Brisante Begegnungen – Nomaden in einer sesshaften Welt“ die Vielfalt nomadischer Lebenswelten über einen Zeitraum von 5000 Jahren in einer regionalen Breite von Marokko bis Tibet und Sibirien zeigen.

Auf der Suche nach Zeugnissen zu Beuys und Clooths stieß Sebastian Blaschek, Uni Leipzig, auf Fotos, die der Klever RP-Fotograf Gottfried Evers vor Schloss Gnadenthal von Beuys machte. Die zeigen den Schamanen im Mantel mit Hut vor dem Schloss und dem Teich (das Foto vorm Teich erschien als Auflage für das Museum Kurhaus Kleve).

Die Bilder gehören zu einem „Medienterminal“ der Ausstellung, wie Dr. Andreea Bretan von der Uni Leipzig, Kuratorin der Ausstellung, erklärt. Die Medienterminals mit ihren Bildern und Dokumenten sind von den Besuchern über ,Touchscreens’ per Finger zu bedienen – laden zum interaktiven Erlebnis mit den Bildern über nomadische Völker ein. Wichtig ist den Ausstellungsmachern auch der Umgang dieser Völker mit ihren Tieren. „Also zeigen wir die Tiere, mit denen diese Menschen zu tun haben, als Plastiken“, sagt die Wissenschaftlerin. So steht etwa das Rentier zum Volk der Lappen im hohen Norden Finnlands. Von den Bildterminals zu den Nomaden und ihren Tieren am Rand des Ausstellungssaales sollen sich die Ausstellungsstücke zur Mitte immer weiter verdichten. Bis sie zur Stadt werden, dem Symbol der Sesshaften. Die Auseinandersetzung der Sesshaften mit den Nomaden stellt einen weiteren Schwerpunkt dar.

Und nicht nur das: Eine zusätzliche Ausstellung im selben Haus wird ab 5. Februar „den Reichtum der verschiedenen Vorstellungswelten, die sich in der zeitgenössischen Kunst um das Nomadische ranken“ aufzeigen, so Bretan. Mittendrin: Joseph Beuys, sein Schlitten (ein „Muss“ in dem Zusammenhang) und nicht zuletzt wieder Evers’ fantastische Beuys-Fotos ...

Das Überleben der Anderen

Das Verhältnis von Nomaden und Sesshaften ist das Thema einer außergewöhnlichen Ausstellung im Museum für Völkerkunde
von Matthias Gretzschel (Hamburger Abendblatt, 22.11.2011)

Sie sind die anderen, die Fremden, die kommen und gehen. Sie haben keine Wurzeln, denn sie bleiben nie lange. Ihre Spur verliert sich, wenn der Sand sie verweht. Für die Sesshaften bleiben Nomaden fremd, manchmal werden sie verdächtigt, mitunter verfolgt, oft versucht man sie anzusiedeln, sesshaft zu machen, meistens ohne Erfolg.

Seit Jahrtausenden gibt es Nomaden, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Nomaden sind auch im 21. Jahrhundert kein Anachronismus, sondern in vielen Ländern der Erde Normalität. Aber wie vertragen sich nomadische Lebenswelten mit den sesshaften Gesellschaften? Diese Frage steht im Zentrum einer Ausstellung, die das Museum für Völkerkunde jetzt gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universitäten Leipzig und Halle-Wittenberg sowie dem Institut für Länderkunde, dem Helmholtz Institut und dem Max Planck Institut für ethnologische Forschung zeigt. Grundlage dieser umfangreichen Schau ist ein mehr als zehn Jahre andauerndes Projekt des Sonderforschungsbereichs "Differenz und Integration", an dem Archäologen, Ethnologen, Geografen, Historiker und Orientwissenschaftler beteiligt sind.

Die Ausstellungsfläche erstreckt sich auf insgesamt 1000 Quadratmeter, aber sie bildet keine räumliche Einheit, sondern ist im Haus verteilt. "Die Art der Präsentation soll dem Gedanken des Nomadischen entsprechen. Die Besucher wandern durchs Haus und erleben das Thema in seiner Flexibilität und in seiner Grundbedingung, der Mobilität", sagt Annegret Nippa, die Projektleiterin und Direktorin des Instituts für Ethnologie in Leipzig.

Noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war das Leben der meisten Menschen in sesshaften Gesellschaften ausgesprochen immobil. Erst seit der Einführung der Eisenbahn Mitte des 19. Jahrhunderts und der Verbesserung der Verkehrswege wurde es auch in Deutschland möglich, den eigenen Lebensumkreis in größerem Maß zeitweilig zu verlassen. Zuvor hatte der Bauer den näheren Umkreis seines holsteinischen Dorfs oder der Beamte seine bayerische Kleinstadt kaum verlassen. Allenfalls Handwerker konnten einmal im Leben auf Wanderschaft gehen und andere Gegenden kennen lernen.

Aber es gab in Deutschend auch die Zigeuner, ein fahrendes Volk, das Scheren und Messer schärfte oder andere Dienstleistungen anbot. Zigeuner wollten nicht sesshaft leben, sie wollen es bis heute nicht. In der Zeit des Nationalsozialismus haben Hunderttausende ihr Unangepasstsein mit dem Leben bezahlt.

Das Verhältnis von Sesshaften und Nomaden beschreibt die Schau unter dem Titel "Brisante Begegnungen - Nomaden in einer sesshaften Zeit", denn das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Lebensweisen birgt Zündstoff. "Differenz und Integration", "Austausch und Handel", "Natur und Tier - Arbeit und Produkt" und "Herrschaft und Kontrolle" heißen die vier Bereiche, in die das Thema gegliedert ist.

"Nomaden und Sesshafte bilden einerseits einen Gegensatz, ihr Verhältnis gründet sich aber zugleich auf Gegenseitigkeit. Einerseits gibt es Abgrenzungsmomente, andererseits einen ständigen Austausch", erklärt die Leipziger Ethnologin Andreea Bretan, die zum Kuratorenteam gehört.

Nomadismus ist eine mobile Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die sich vor allem, aber keineswegs ausschließlich auf Viehzucht gründet. Und der Wandel der technologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kann auch zu neuen Formen des Nomadismus führen. So gibt es in modernen Gesellschaften zunehmend Jobnomaden, also Menschen, die eine spezialisierte berufliche Tätigkeit an ständig wechselnden Orten wahrnehmen. Die vielen Millionen Wanderarbeiter, die das Rückrat der chinesischen Bauindustrie bilden, kann man als Jobnomaden bezeichnen. Interessant ist, dass viele zeitgenössische Künstler den Nomadismus als etwas betrachten, mit dem sie sich in ihrer mobilen und flexiblen Lebensweise identifizieren.

Dieser Aspekt ist Thema einer ergänzenden Kunstausstellung, die für Anfang Februar 2012 geplant ist. Als Katalog zur Ausstellung liegt ein besonderes Format vor: 'Das Kleine abc des Nomadismus'. Die Artikel in dem reich bebilderten Buch wurden von unterschiedlichen Wissenschaftlern aus dem Sonderforschungsbereich geschrieben. 'Das Kleine abc des Nomadismus' erläutert zentrale Begriffe, die in der Ausstellung und in der Forschung eine Rolle spielen. Es vermittelt Grundlagenwissen zum Thema Nomaden und ihren brisanten Beziehungen zu Sesshaften.

Im Gewölbesaal im ersten Stock steht das vielleicht spektakulärste Objekt der Ausstellung: ein syrisches Beduinenzelt, das aus schwarzer Ziegenwolle besteht. Wenn die Besucher hineintreten, werden sie über die Größe verblüfft sein, denn das Zelt, das ein Neuzugang ist und nach der Ausstellung weiterhin vom Museum genutzt wird, fasst mindestens 20 Personen. Nebenan in der Europa-Abteilung geht es um das "Innenleben" einer Jurte.

Dort ist systematisch ausgebreitet, was zum Hausrat einer Nomadenfa-milie zählt: Die Textilien, Truhen, Geschirre und Gebrauchsgegenstände werden den Bereichen der Jurte zugeordnet, die jeweils Männern und Frauen, aber auch Tätigkeiten wie dem Kochen vorbehalten sind. Konfrontiert wird dieses Objekt-Ensemble mit dem großformatigen Bild, das eine britische Familie mitsamt ihrem Hausrat vor dem Eigenheim zeigt. Eine weitere Station befindet sich im Indonesiensaal, in dem eine Karawanserei aufgebaut ist, jene Kommunikations- und Raststätten, an denen sich die Teilnehmer von Karawanen trafen, Informationen austauschten und mit frischen Vorräten versorgten.

Der Hauptteil der Ausstellung befindet sich im großen Saal. Dort herrscht Steppenatmosphäre. Man sieht Dermoplastiken von Tieren, die die Lebensgrundlage von Nomaden bilden. Stadt und Steppe, Sesshaftigkeit und Nomadentum sind die Gegensätze, denen hier thematisch nachgegangen wird. Aber schon die Ausstellungsarchitektur macht die wichtigste These der Schau deutlich: Beide Wirtschafts- und Gesellschaftsformen beziehen sich aufeinander, beide gehören zur Realität, auch in unserer globalisierten Welt.

Kein Grundbuch, keine Grenze

Elf Jahre Forschung zum nomadischen Leben macht eine Ausstellung in Hamburg anschaulich. Dass sie viele Aspekte nur anreißt, ist kein Nachteil
von Hajo Schiff (taz, 23.11.2011)

Ein Hamburger Senator in alter Amtstracht – nicht direkt, was in einer Ausstellung zu erwarten ist, die sich mit der 5.000-jährigen Geschichte der Nomaden befasst. Zwar kam die derzeitige Kultursenatorin am letzten Donnerstag zur Eröffnung, aber das ist eben lange nicht so überraschend wie die Puppe eines ihrer Amtsvorgänger, im niederländisch-spanischen Hofstil des Barocks gekleidet, inmitten von Kamelen und rentieren, Jurten und ägyptischen Grabungsfunden.

Es geht in der lange vorbereiteten, von einem internationalen Symposion begleiteten Ausstellung um die Nichtsesshaften in Asien, Europa und Nordafrika, zwischen Sahara und Arktis. Und die werden nicht staunend als die so ganz anderen dargestellt, sondern als Partner im zwar mitunter irritierenden, aber eben auch notwendigen Austausch mit den Sesshaften.

Arbeitsemigration, sogenannte Jobnomaden und das mit Laptop im Café sitzende Praktikanten-Prekariat schärfen als gegenwärtiges Problem den Blick auf das Thema. Doch diese Varianten modernen Lebens stellen die Sesshaftigkeit nicht grundsätzlich in Frage. Und sie sind noch keine traditionallen, gar ganze Familienclans umfassenden Lebensformen. Allerdings mag der Debatte um Migration und Integration die Reflexion der mehrtausendjährigen Tradition des Nomadischen gut tun.

Schnittstelle zwischen Nomaden und Sesshaften ist seit jeher der Handel. Und so steht der Senator mit seinem Wams aus Persianerfell für den langen Weg, den das Fell der frei durch die Steppen Asiens laufenden Karakulschafe nimmt: vom Markt im heute usbekischen Buchara bis zur jährlich eine Million Felle verhandelnden Pelzbörse in Leipzig – im 19. Jahrhundert die größte der Welt.

Überhaupt Leipzig: Die Ausstellung ist das Ergebnis eines an der dortigen Universität sowie in Halle angesiedelten Sonderforschungsbereichs. Seit elf Jahren finanziert die Deutsche Forschungsgemeinschaft den interfakultativen Sonderforschungsbereich 586, "Differenz und Integration": 90 WissenschaftlerInnen aus 15 Disziplinen haben in 50 Projekten gearbeitet. 1.100 Seiten hatte allein schon der Antrag für dieses Unterfangen; gefördert hat die DFG – wie auch der Sonderausstellungsfonds der Stadt Hamburg – auch die Ausstellung.

Die Geschichte der Nomaden ist seit je immer von den anderen geschrieben worden. Und die wollten diese sie im Grunde beängstigende Lebensform immer in ihre eigene Ordnung zwingen, kompatibel machen zu Grundbüchern und Staatsgrenzen. So zeigt die Ausstellung auch, wie die skandinavischen Länder Werbung mit der Folklore der Lappländer machen, die Sami selbst aber falsche Vorstellungen bekämpfen: Motorschlitten, Mobiltelefone und eigens für sie entworfene Puma-Schuhe passen eben nicht so recht in das zugleich romantisierte und abwertende Bild, das die Sesshaften überall von den Nomaden pflegen.

In diesem Zusammenhang steht auch der unkorrekte Begriff Zigeuner, selbst wenn ihn manche der titulierten Gruppen durchaus benutzen. Dabei spiegelt sich in der Sprache eine Abwehrhaltung: Fast alle Namen, die die Mehrheit der Sesshaften, den eher wandernden Völkern gegeben hat, sind einseitig und werden von den so Bezeichneten abgelehnt – sogar der scheinbar bloß deskriptive Begriff Nomade selbst.

Nomaden sind, anders als erwartet, selbst durchaus verortet. Das scheinbar so freie Land ist durch Familientradition und informelle Nutzungsrechte weitgehend definiert. Und viele nomadisch organisierte Clans unterhalten auch Stadthäuser. So zeigt die Ausstellung als Beispiel ein aufwendig gearbeitetes Aluminiumdach aus Rumänien. Die dortigen, im Unterschied zu den Viehhaltern von den Wissenschaftlern "Dienstleistungsnomaden" genannten Großfamilien haben für gelegentliche Treffen in den Städten Häuser, die sich vor allem durch besonders prächtige Dächer auszeichnen. Diese "ostentative Sesshaftigkeit" zeigt, dass ihre in dieser Hinsicht paradoxe Lebensform über beides verfügt: zur ungebundenen Freiheit auch über einen definierten Ort.

Von altrömischen Verordnungen bis zu den mit Handy die Kurse der Fleischbörse abfragenden Zeltbewohnern, von einer der traditionell der Natur folgenden Lebensweise zur Herstellung von Recycling-Produkten durch wandernde Schrottsammler: Klar, dass diese spannende Ausstellung eher zahlreiche Themen anreißt, als dass sie einzelne vertiefend darstellt. Und sie setzt sich in weiteren Stationen in der Dauerausstellung des Museums fort. So wird in der Europa-Abteilung der komplette Haushalt einer Familie aus einem englischen Vorort mit dem Inventar einer turkmenischen Jurte verglichen. Ein Filmprogramm begleitet das Projekt, eine spezielle Kunstausstellung folgt im Februar.

Zum Angebot viele Einzelaspekte passt auch, dass das informative Katalogbuch, das "ABC des Nomadismus" die neuen Erkenntnisse in Lexikonform verpackt. So müssen weder Leser noch Ausstellungsbesucher einer festgefügten Argumentation folgen, sondern können durch die verschiedenen Aspekte des Themas – nomadisieren.