Arbeitsprogramm

Leitperspektiven

(Auszüge aus dem Antrag)

Die folgenden vier Leitperspektiven (Zentrum/Peripherie, Raum/Ort, Ressourcen/Existenzsicherung, Repräsentation/Diskurs) bleiben zunächst zwangsläufig abstrakt. Sie gehen zur Positionierung unserer Arbeit im wissenschaftlichen Gefüge auch teilweise weit über die Nomadismusforschung hinaus, konkretisieren sich jedoch in den anschließenden erkenntnisleitenden Fragen und deren Umsetzung in den Teilprojekten, Projektbereichen und Arbeitsgruppen.

Zentrum und Peripherie

Im Mittelpunkt stehen hierbei wechselnde Zentrum- und Peripheriebeziehungen zwischen Nomaden und Sesshaften in der longue durée, die bis in aktuelle Gesellschaftsformierungen hineinwirken. Untersucht wird die gesellschaftliche Verfasstheit von Raum und Territorien; und zwar von frühen Staaten, Großreichen, modernen Nationalstaaten bis hin zu transnationalen Blockbildungen. Von erkenntnisleitender Bedeutung ist die Frage, inwieweit Verhältnisse ökonomischer Ungleichheit, asymmetrischer Machtbeziehungen und (konstruierter) kultureller Widersprüchlichkeit die Interaktionen zwischen Nomaden und Sesshaften konfigurieren, sich als strukturbildende Muster der Gesellschaftsformation niederschlagen und gegenwärtig auch neue - territorial fragmentierte - Peripherien hervorbringen.

In diesem Kontext sind folgende Fragen für den SFB erkenntnisleitend:

  1. Wie konstituieren und materialisieren sich entlang von Nomaden-Sesshaften-Beziehungen asymmetrische Machtverhältnisse, wie sind diese gesellschaftlich verfasst, inwieweit weisen sie Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten auf und strukturieren auch langfristig Handlungsmöglichkeiten?
  2. Wie sind Nomaden-Sesshaften-Interaktionen - auf unterschiedlichen Handlungsebenen - in ungleiche ökonomische Transaktionsbeziehungen eingebunden, wie werden diese reproduziert, transformiert oder gar grundsätzlich in Frage gestellt, bzw. zu welchen Zeitpunkten und an welchen Orten finden Entkopplungen aus ökonomischen Austauschverhältnissen statt?
  3. Inwieweit entfalten Zentrum-Peripherie Ansätze eine neue Erklärungsreichweite für die Analyse der Wechselwirkungen zwischen Nomaden und Sesshaften im Kontext neuer raumtheoretischer Überlegungen nach dem Cultural und Spatial Turn?

 

Raum und Ort

Die Bedeutung von Raum für die Fragestellungen des SFB bezieht sich zunächst auf die Auseinandersetzung mit dem ontologischen Charakter räumlicher Einheiten. Der Spatial Turn rückt den gesellschaftlich gemachten Raum als Schauplatz und Bühne historischer Ereignisse und als Produkt gesellschaftlicher Aushandlung in den Vordergrund und strahlt mittlerweile in unterschiedliche Disziplinen aus. Im Kontext von historisch tiefgreifenden Vorgängen, die gesellschaftsgenerierend wirksam werden und die Beziehungen von Lokalem zu Globalem verändern, muss das 'Lokale' neu gedacht werden; der Begriff ist nicht mehr an eine territoriale Einheit (an ein Dort) gebunden und er konnotiert auch nicht mehr Peripherie, in dem Sinne, dass das Lokale im gesellschaftlichen Machtgefüge eine Marginalie darstellt (Armut 'dort') (Gertel 2007a). Vielmehr bezeichnet das Lokale alltägliche Handlungsvollzüge, die sich - eben auch im Zentrum der Macht und gleichzeitig an unterschiedlichen Orten - über Netzwerke von sozialen Beziehungen definieren, welche im Wesentlichen aus Vorstellungen - aus Imaginationen - des handelnden Subjektes in seiner Körperlichkeit hervorgehen. Soziale Interaktionen werden damit als Vorgänge begriffen, die über territoriale Grenzen hinweg - und eben auch in neuen sozialen Räumen (etwa in der nomadischen Diaspora) - stattfinden, so dass innerhalb einer territorial gestreckten Handlungskette die Bedingungen von Armut, Ausbeutung und Ausgrenzung mit denen von Prosperität und Sicherheit kausal verbunden sein können.

Hieraus leiten sich folgende Fragen für die Arbeit im SFB ab:

  1. Welche Formen raumbildender Praxis sind kontextspezifisch für Nomaden-Sesshaften-Interaktionen bedeutsam? Wie wird 'nomadischer' und 'sesshafter' Raum durch militärisches Ausgreifen, ökonomische Austauschvorgänge, politische Wechselwirkungen, sprachliche Signifikationen und persönliche Aneignungen in der Alltagspraxis gemacht? Wie, wann und wo enstehen hieraus Konflikte, wie werden diese ausgehandelt und wie schlägt sich dies wiederum räumlich nieder? Was von diesen Vorgängen ist wie in den Quellen sichtbar?
  2. Wie sind Orte, als territorial unbewegliche Räume einerseits und im Sinne eines deterritorialisierten Lokalen andererseits, in Diskurse eingebunden? Wie werden sie produziert, mit Bedeutung belegt und symbolisch aufgeladen? Wer ist in der Lage, Orte zu definieren? Wie manifestieren sich diese raumstrukturierenden Diskurse beispielsweise bei der Allokation von Ressourcen, bei der Konstruktion von Zugehörigkeit und der Gestaltung von (sozialen) Landschaften?
  3. Wie werden raumkonstituierende Bedeutungen in Texten, Karten und Plänen eingesetzt und verwendet, beispielsweise als Methode der Untersuchung, als Mechanismus der Repräsentation, als Instrument der Herrschaft? Wie sind entsprechende Aspekte der Praxis eingebettet in die Interaktion zwischen Nomaden und Sesshaften? Inwieweit festigen sie asymmetrische Machtbeziehungen und legitimieren Entscheidungen?

 

Ressourcen und Existenzsicherung

Ressourcen stellen die Grundvoraussetzung zum Handeln dar. Erst der Zugang und die Verfügung über Ressourcen machen Handlungen und Interaktionen möglich. Im Zusammenhang der Wechselbeziehung von Nomaden und Sesshaften sind Ressourcen daher als Gegenstand gesellschaftlichen Handelns von ausschlaggebender Bedeutung. Sie bestehen nicht an sich, sondern nur sofern sie durch menschliche Arbeit erschlossen bzw. konstituiert werden (vgl. Bourdieu 1983). Ressourcen werden von Nomaden und Sesshaften gruppenspezifisch oder in Arbeitsteilung zwischen den Gruppen genutzt (Franz 2005a). Ökonomische, politische und kulturelle Bezüge von Ressourcen lassen sich in der Praxis dabei nicht vollständig isolieren. Vieh, Weiden, Tränken begründen eine gewisse ökonomische Selbstständigkeit von Nomaden, während der Austausch mit anderen Gruppen durch Handelsgüter, den Verkauf der Arbeitskraft oder die Gewährung von Wegerechten gekennzeichnet sein mag. In aller Regel sind nomadische Gruppen bemüht, ihre Wirtschaftsweise zu diversifizieren und sich mehrere Ressourcen gleichzeitig zu erschließen. Ziele ihrer Handlungen sind die Verminderung von Abhängigkeiten und die Streuung von Risiken. Von Ressourcen zu unterscheiden sind daher die Strategien ihrer Erschließung, bspw. durch räumliche Mobilität, Beutezüge oder Kriegsführung.

Dies schließt an die gegenwartsbezogene Entwicklungsforschung an, die sich besonders intensiv mit Ressourcen und Existenzsicherung beschäftigt hat. Im Hinblick auf Ressourcen bzw. Kapital und Vermögenswerte sind in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem drei Konzepte diskutiert worden: Ansätze zur Überlebensökonomie (Evers 1987; Schmidt-Wulffen 1987), zur Verwundbarkeit (Watts/Bohle 1993) und zusammenführend zum Livelihood-Konzept (Chambers/Conway 1991; Carney 1998; Krüger/Macamo 2003; Bohle 2005). In ihrem Zentrum stehen - übertragen auf den Sonderforschungsbereich - zwei zentrale Fragen: Welche Strategien verfolgen Nomaden vor allem in Situationen von Unsicherheit, um ihre Existenz zu sichern? Welche Rolle spielen dabei welche Ressourcen?

Für die Analyse der Existenzsicherung sind im Zusammenhang der Wechselwirkungen zwischen Nomaden und Sesshaften drei theoretische Ansatzpunkte zentral: Strukturationstheoretische Handlungskonzepte (Giddens 1995), erweiterte Kapitalbegriffe (Bourdieu 1983; Dörfler et al. 2003) und verfügungsrechtliche Ansätze (Sen 1981). Im Zentrum der SFB-Arbeit steht die fallspezifische Kombination und Zusammenführung dieser Perspektiven (Gertel 2007b; Breuer 2007a). Hieraus ergeben sich drei übergeordnete Fragen:

  1. Über welche Kapital- und Ressourcenausstattungen verfügen Nomaden? Inwieweit wirken hierbei materielle Ressourcen, wissensbasierte Fähigkeiten (indigenous knowledge) und gruppenspezifische Normen- und Regelwerke bei Erschließung, Zugang und Verwendung von Ressourcen zusammen?
  2. Welche Strategien verfolgen Nomaden, um in der Interaktion mit Sesshaften sowie in unterschiedlichen politischen, ökonomischen und ökologischen Situationen mit Unsicherheiten umzugehen, um Existenzen zu sichern und gegebenenfalls Risiken zu streuen? Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, welche Konflikte hierbei auftreten und wie diese bewältigt werden.
  3. Inwieweit geben schließlich übergeordnete gesellschaftliche Muster der Ressourcenverteilung Handlungsoptionen gruppenübergreifend vor? Wie sind die Mikroebene der Existenzsicherung und die Makroebene von Zentrum-Peripheriebeziehungen miteinander verknüpft? Zu welchen Zeitpunkten und an welchen Orten werden technologische Innovationen und Strukturbrüche in den Wechselbeziehungen zwischen Nomaden und Sesshaften gesellschaftsformierend wirksam?

 

Repräsentation und Diskurs

Es gehört mittlerweile zur Dynamik der kritischen Wissenschaft, dass die Wertungen und Vorstellungen, die einen Gegenstand zu dem machen, was er ist, hinterfragt, in Genese und Funktion und hinsichtlich unterliegender Interessen erklärt und ggf. revidiert werden. Für unseren Zusammenhang bedeutet dies, Aussagen über Nomaden in sesshaften Kontexten als Sichtweisen zu werten (an deren Zustandekommen Nomaden beteiligt sein können) und Aussagen von Nomaden, die an einen sesshaften Kontext gerichtet sind, als Antworten auf die bekannten Attribuierungen zu verstehen. Das nomadische Eigene ist für den Historiker, aber auch für den Anthropologen nur als Ergebnis langer Austauschprozesse zwischen den Lebensformen zu fassen und muss im Falle der in historischen Quellen meistens schweigenden Nomaden unter einer "dicken Decke" von traditions- und interessegeladenen Sichtweisen ausfindig gemacht und ausgegraben werden. Das Verständnis des Gegenstands (Wechselwirkungen zwischen Nomaden und Sesshaften) als ein Konstrukt von Diskursen vermittelt eine relativistische Sichtweise, die anstrebt, unreflektierte Essentialismen aufzulösen.

Der SFB beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit kulturellen Praktiken und widmet sich dabei der Analyse des Zusammenwirkens von Sprache, Wissen und Repräsentation. Hierbei steht eine genaue Sicht auf gesellschaftliche Differenzierungs- und Integrationsvorgänge im Mittelpunkt sowie die Einsicht in die Notwendigkeit, die 'Anderen' reflektiert zu repräsentieren. Beleuchtet werden vor diesem Hintergrund die Konsequenzen, die aus den konkreten sowie fiktiven Begegnungen von Nomaden und Sesshaften und ihren diskursiven Bedeutungszuweisungen hervorgehen; also, die rekursive Kopplung von (Alltags)-Praxis und (Text)-Wissen, in die sowohl Abgrenzungs- und Differenzierungsprozesse als auch Aneignungs- und Integrationsvorgänge eingebunden sind. Analysiert werden dabei zum einen Fremdperspektiven, wenn sich etwa Bilder über Nomaden (bzw. die Konstruktion des 'Fremden') zu Handlungen für/gegen Nomaden transformieren und in Interventionen materialisieren; zum anderen geht es um Eigenperspektiven, wenn etwa aus vorgestellten Gemeinschaften Identitäten abgeleitet, Indigenität postuliert und damit der Zugriff auf Ressourcen legitimiert wird.

Hieraus ergeben sich zwei übergeordnete Fragenkomplexe:

  1. Welche konkreten sowie fiktiven Begegnungen von Nomaden und Sesshaften sind diskursiv bedeutsam? Welche Repräsentationsmuster sind dabei wirksam? Inwieweit ist die Konstruktion des Fremden im Hinblick auf Nomaden-Sesshaften-Beziehungen historisch verwurzelt und stellt ein Master Narrative bei der Produktion von Alterität dar?
  2. Durch welche Vorgänge werden umgekehrt "von innen" (nomadische) Identitäten produziert und instrumentalisiert? Wie wird hieraus der Zugriff auf Ressourcen legitimiert? Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang etwa imaginierten Gemeinschaften, konstruierten Genealogien und postulierter Indigenität zu?

 

Fazit

Diese vier Leitperspektiven strukturieren das theoretische Gefüge auf das der Sonderforschungsbereich in der dritten Phase maßgeblich rekurriert, ohne dabei andere Ansätze, die sich im Einzelfall als sinnvoll erweisen, ausschließen zu wollen. Komplementär zu diesen teilweise weit verzweigten Theoriegebäuden stehen die vier inhaltlichen Kernthemen (Herrschaft, Mobilität, Repräsentation und Großereignisse), die nunmehr problemzentriert und - eben theoriegeleitet - in paradigmenbildender Absicht sowohl aus den Teilprojekten heraus als auch in den vier gleichnamigen Arbeitsgruppen untersucht werden sollen. Um beispielsweise "Herrschaft" im sich verändernden Nomaden-Sesshaften-Gefüge zu erklären, ist es fallspezifisch sinnvoll Zentrum- und Peripherieansätze etwa mit raumtheoretischen Überlegungen zu kombinieren oder gegebenenfalls Aspekte von Ressourcen und Existenzsicherung zu beleuchten bzw. diskursive Mechanismen von (Macht)Repräsentation zu untersuchen. Die Leitlinien stellen somit den konzeptionellen Referenzrahmen für den SFB insgesamt und insbesondere für die Tätigkeit in den Arbeitsgruppen dar.