Arbeitsprogramm

Grundlagen

Die Grundlagen des Sonderforschungsbereiches, die in den beiden ersten Antragsphasen erarbeitet wurden, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Gegenstand: Der Forschungsverbund des SFB untersucht das Zusammenwirken von nomadischen und sesshaften Lebensformen in der regionalen und zeitlichen Erstreckung, in der dieses Beziehungsgeflecht zivilisatorische Prozesse mitbestimmt. Das Aufeinandertreffen beider Lebensformen impliziert in der Regel, dass zwischen Städten, ländlichen Siedlungen und nomadisch genutzten Gebieten ein räumlicher Zusammenhang besteht, der unterschiedliche Formen des Kontakts bedingt. Der altweltliche Trockengürtel, der Teile Afrikas und Eurasiens verbindet, bildet daher den räumlichen Schwerpunkt, der unter dem Gesichtspunkt der longue durée bearbeitet wird. Er wird in der nun abschließenden Phase um ein Vorhaben ergänzt, das als Kontrast- und Kontaktgebiet die europäischen Außengrenzen einbezieht.

Ansatz: Unser Forschungsansatz ist von der Einsicht bestimmt, dass Nomaden durch die Verschränkung der Ökonomien, durch politische Verbindungen und kulturelle Austauschprozesse mit sesshaften Gesellschaften in Beziehungen stehen, ohne die weder nomadische Lebensverhältnisse noch ihre Wirkungen zu verstehen sind. Ein grundlegender Aspekt dieser Beziehung ist, dass pastorale Wirtschaftsweisen in der Regel einer Ergänzung durch Produkte agrarischer und anderer sesshafter Erzeugnisse bedürfen oder zumindest danach streben. Nomaden nutzen neben mobiler Weidewirtschaft auch andere Ressourcen und profitieren von der komplexen Arbeitsteilung und der sozio-politischen Organisation sesshafter Gesellschaften, da diese den Tausch von Produkten und Dienstleistungen ermöglichen. Auch die in nomadischen Gesellschaften ausgeprägten Kulturformen, wie soziale Ordnungsvorstellungen, Rechtssysteme, Werte und Sprachformen, sind durch Rezeption und Ausstrahlung mit denen sesshafter Gesellschaften verknüpft.

Positionen: Dieser Ansatz wird durch zwei komplementäre Betrachtungsweisen ergänzt. Auf der einen Seite steht die Vielfalt von gesellschaftlichen Erscheinungsformen extensiver Weidewirtschaft, welche mit nomadischen Lebensformen einhergehen. Aus dieser Vielfalt kann gefolgert werden, dass jeder eindeutige Bezug auf einen wesentlichen Kern von nomadischer Wirtschaftsweise in Frage steht sowie, dass permanente Flexibilität und dauernde Anpassung an Wandlungsprozesse geradezu als zentrale Charakteristika zu betrachten sind (Salzman 1996; Schlee 2005; Chatty 2006). Auf der anderen Seite sind Spezifität und Gemeinsamkeit nomadischer Lebensformen (Scholz 1995; Spittler 1998) durch das Ausmaß gegeben, in dem natürliche und soziale Ressourcen durch bestimmte Formen von Mobilität erschlossen werden; sie sind zudem wirksam in der Ausformung von nach innen und außen wirksamen Identitäten entlang der - oftmals konstruierten - Grenze zwischen Nomadismus und Sesshaftigkeit (Leder 2005; Binay 2006). Nomadismus ist daher im jeweiligen Einzelfall zunächst auch als zu-erklärende Variable zu begreifen.

Annahmen: Die komplexe Interdependenz von nomadischen und sesshaften Lebensformen gilt als Ausgangspunkt (Khazanov 1984), der weithin Anerkennung gefunden hat (Müller-Mahn 1989; Golden 1992; Tapper 1997; Lancaster/ Lancaster 1996; Leder/Streck 2005). Auch die Bedeutung der nomadischen Mischwirtschaft und ökonomischer Verflechtungen, die grundlegend sind für Verknüpfungen zwischen den Lebensformgruppen (Beck 1988), wird nun als ein historisch belegtes Grundmuster nomadischer Existenz hervorgehoben (Lancaster/Lancaster 1990; dies. 1999; Breuer 2007a) und ist in die historische Modellbildung eingegangen (Streck 2002). Auch Thesen eines "reinen" Geodeterminismus sind zu relativieren. So scheint die räumliche Gliederung in aride, für Regenfeldbau nicht nutzbare Gebiete, landbaulich genutzte Zonen und Städte nur auf den ersten Blick mit der Unterscheidung von nomadischen und sesshaften Lebensformen eng verknüpft. Zwischen naturräumlicher Gliederung und Lebensform besteht jedoch keine stabile und notwendige Beziehung, denn die Zuordnung der mobilen Tierhaltung zu fest umrissenen Naturräumen ist nicht eindeutig und im Forschungsgeschehen immer wieder zu problematisieren. Zum einen sind Nomaden nicht selten in Gebieten anzutreffen, die auch andere Nutzungsweisen erlauben (Marx 1996). Auch ist mehr denn je zu bezweifeln, dass aride Zonen, die für eine nomadische Herdenwirtschaft geeignet sind, über längere Zeiträume durchgängig auf diese Weise genutzt wurden. Zum anderen ist mobile Herdenwirtschaft durch die Erscheinungsformen von Vollnomadismus, Teilnomadismus, Bergnomadismus und Transhumanz ohnehin in Siedlungszonen unterschiedlicher natürlicher Voraussetzungen beheimatet und zum Teil mit agrarischen Zonen verbunden (Ehlers/Kreutzmann 2000; Kreuzmann 2006; Roba/Witsenburg 2004; Chiche 2007). Schließlich findet über lange Zeiträume hinweg eine sporadische wechselseitige Durchdringung der Räume durch Verlagerung verschiedener Lebensformen unter politischen und agrartechnischen Voraussetzungen statt. Neben anthropogenen Veränderungen räumlicher Bedingungen und verschieden determinierten Nutzungsprofilen natürlich unterschiedlich ausgestatteter Räume bleiben auch klimatische und geophysikalische Bedingungen als auslösende Faktoren für Verlagerung von Nutzungsräumen und zugehöriger Migration nomadischer Gruppen zu berücksichtigen (Scoones 1995; Bollig 2006).

Das Zusammenwirken nomadischer und sesshafter Gruppen vollzieht sich daher in instabilen Wechselbeziehungen von Differenzierungs- und Integrationsprozessen, die in allen relevanten ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern wirken und zugehörige Wahrnehmungs- und Repräsentationszusammenhänge prägen. Komplementäre Spezialisierung, als die Nomadismus betrachtet werden kann (Gellner 1990; vgl. auch Scholz 1995), macht Interaktion erforderlich, doch ist deren Form und Wirkung abhängig von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren. Neben friedlichem Austausch stehen Interessenkonflikte und Abgrenzungsprozesse; Ausdehnung staatlicher Kontrolle über Nomaden wechselt ab mit dem Ausgreifen nomadischer Einflusszonen in agrarisch genutzte, zum Teil auch städtische Räume (Marx 2005; Drieskens 2005).

Die lange gängige Vorstellung, nomadische und sesshafte Lebensformen stünden sich als geschlossene gesellschaftliche Formationen in latenter Konfliktbereitschaft gegenüber, wird von der aktuellen Forschung gänzlich überholt. Es ist nicht die Konfrontation, sondern die Verzahnung von nomadischen und sesshaften Systemen mit ihren unterschiedlichen politischen Organisationsformen, sozialen Ordnungen, Rechtsbegriffen, Raumverständnissen und Wertvorstellungen etc., welche historisch von nachhaltiger Wirkung war und das Gesicht weiter Regionen und ihrer Gesellschaften mitprägte (Paul 2004a, Franz 2007a). Das politisch-administrative Ausgreifen von Staaten oder staatlich gestützten Agenturen in den von Nomaden beherrschten offenen Raum, nomadische Dienstleistungen und Adaptationsstrategien, die sich den Erfordernissen sesshafter Gesellschaften anpassen und es Nomaden erlauben, in ihnen Fuß zu fassen, ebenso wie die Vielfalt von nomadischen Lebensformen, bestimmen das Wirken des Nomadismus in der Wechselbeziehung mit sesshaften Gesellschaften (Barfield 1993, 2001).

Allerdings lässt sich sowohl im historischen Kontext (Leder 2004) wie auch in der Gegenwart (z. B. Weisleder 1978) beobachten, dass die Dichotomie der Lebensformen ein historisch durchgängiges und von beiden Lebensformgruppen zur Identitätsbildung genutztes Denkmuster darstellt. Es zielt aber weniger auf eine in der Praxis unversöhnliche Gegensätzlichkeit, als dass es die Konstruktion vom Eigenen und Fremden entlang markanter Unterscheidungsmerkmale zwischen nomadischen und sesshaften Lebensverhältnissen in spezifischen Traditionskomplexen leistet. Die vielfach in ihrer Kontrastschärfe stark überhöhte Vorstellung vom Nomaden kann auf diese Weise eine Wirkung erzielen, die bedeutsamer erscheint als die ökonomischen Potenziale dieser Lebensform selbst (Khazanov 1981; Weiß 2007a). Grundlage für diese Wirkung bleibt jedoch, dass nomadische Gesellschaften vielfach im Hinblick auf Normen, Werte und darauf bezogene Praktiken eine Eigenständigkeit oder zumindest Spezifität aufweisen, deren Vitalität sich auch im Fortleben unter postnomadischen Lebensverhältnissen (Bocco 1989; Ababsa-Al-Husseini 2002) und mit der Rezeption in sesshaften Gesellschaften bestätigt.

Viehhirtennomadismus ist heute in den meisten seiner traditionellen Verbreitungsgebiete in Nationalstaaten "eingeschlossen", oft in seinen althergebrachten Erscheinungsformen marginalisiert und in Bezug auf Bewegungsfreiheit und "Kriegstüchtigkeit", die seit alters eine Begleiterscheinung nicht nur kamel- und pferdezüchtender Nomaden, sondern auch der Rinderzüchter, zum Teil auch von Kleinviehnomaden gewesen zu sein scheint, stark eingeschränkt. Dieser Befund gilt insbesondere dort, wo souverän agierende, gefestigte Staatsgebilde auftreten. Bei Schwächung staatlicher Macht, wie im Irak und im Sudan, wo seit den 1980er Jahren des 20. Jh. eine Reaktivierung von Stammesorganisation staatlicherseits gefördert worden war (Abdul-Jabar 2003; De Waal 1997; Beck 2003), können überwunden geglaubte Ansätze zu tribal organisierter Beuteökonomie in Verbindung mit Mischformen extensiver Weidewirtschaft plötzlich wiedererscheinen.

Allgemein gilt, dass in modernen Formen extensiver Weidewirtschaft, die aus traditionellem Nomadismus hervorgehen oder an diesen anknüpfen, vehemente Transformationsprozesse ins Blickfeld treten (vgl. Kerven 2003; Finke 2005; Gertel/Breuer 2007a), weil einerseits Funktionen, zu denen Nomaden früher wesentlich beitrugen, wie Transport oder Waffendienst, heute auf andere Weise ausgeübt werden, andererseits, da Motorisierung und neue Kommunikationsmittel die Bedingungen nomadischer Existenz verändern. Extensive Weidewirtschaft ist daher stärker auf lokale und translokale Märkte orientiert (Schlee 2004; McPeak/Little 2006), neue Formen der Ressourcenmischung einschließlich Arbeitsmigration treten neben die Viehwirtschaft (Breuer 2007c) und der ideologisierte Anspruch auf eine historische Verbindung zu einem - politischen unabhängigen - Nomadismus wird zu einer Quelle individueller und kollektiver Identität (Shryock 1997).

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt sich daher das Alltagsleben in den ehemals nomadisch geprägten Gesellschaften dieser Welt komplex, fragmentiert und widersprüchlich dar (Bollig/Österle 2003; Müller-Mahn/Rettberg 2007). Tiefgreifende sozio-ökonomische Transformationen wirken sich auf nahezu alle Lebensbereiche aus. Sie umfassen Prozesse ökonomischer Differenzierung und Diversifizierung, selektiver Einbindung nomadischer Produktionssysteme in globalisierte Märkte (Zaal 1999), sozialer Polarisierung und Fragmentierung lokaler Gemeinschaften sowie migrationsbedingter Intensivierung von Land-Stadt-Verflechtungen. In ihrem Zusammenwirken stellen diese Vorgänge die Menschen vor Ort vor neue Herausforderungen bezüglich der Sicherung ihrer Existenz, gerade in Notsituationen (vgl. Spittler 1989; De Waal 1989; Meier 1995; Bollig 2006). Die lokalen Lebenswelten reflektieren dies: sie sind teilweise in hohem Maße nach außen verflochten und stellen sich als extrem heterogen dar. Verschiedenste Formen von Armut und Reichtum, individuelle Wege sozialen Auf- und Abstiegs, unterschiedlichste Arten der Existenzsicherung und Ressourcennutzung erfolgen auf engstem Raum: innerhalb einzelner Familien und Dorfgemeinschaften, unmittelbar direkt nebeneinander. Der Alltag einiger Bevölkerungsgruppen ist durch Sicherheit und Wohlstand, der anderer Gruppen durch Unsicherheit, völlige Verarmung und dauerhaften Kampf um das Existenzminimum gekennzeichnet (Janzen 1999; Manger et al. 1996, Rass 2007).

Während einzelne Elemente in diesen neuen Konstellationen historische Kontinuität zeigen, wie Mischwirtschaft, Mischverhältnisse im Hinblick auf Radius und Frequenz nomadischer Mobilität sowie Berufung auf ein politisches Selbstverständnis des Nomadismus, sind andere Faktoren, insbesondere die Einflüsse der Globalisierung, ohne historisches Vorbild (Gertel 2002); auch die Bewertung nomadischer Wirtschaftsweise und Lebensform bewegt sich in spezifischen Kontexten, wenn sich beispielsweise ökonomische Ertragsschwäche in Mangel an sozialem Prestige übersetzt, Nomadismus als nationale Identität idealisiert wird oder die ökologischen Vorteile einer angepassten Weidenutzung hervorgehoben werden.

Die Untersuchung des Zusammenwirkens von nomadischen und sesshaften Lebensformen bewegt sich daher notgedrungen zwischen einer Dekonstruktion und Korrektur von schematischen Vorstellungen eines unversöhnlichen Gegensatzes und der Erkundung realer Verschränkungsverhältnisse und ihrer Wirkung (Müller-Mahn 1989). Dabei stößt die Forschung wiederholt auf Formationen, in denen Nomaden und Sesshafte sich in einen engen Lebenszusammenhang fügen. Dazu gehören das kleinräumige Nebeneinander, womöglich unter gemeinsamer politischer Administration (Rowton 1973; Briant 1982); Verhältnisse, bei denen Sesshafte nicht vollständig sesshaft sind (Scharrer 2002) und Nomaden in unterschiedlichen Formen mobile Fernweidewirtschaft betreiben sowie Gruppen, die sich weder Beduinen noch Sesshaften zurechnen (Lange 2003). Gerade diese Mischverhältnisse zwischen den Gruppen, bei denen Grenzen und Übergänge in dichter Abfolge existieren, bieten in der historischen Perspektive ein stetiges Erscheinungsbild. Anknüpfend an die Bedeutung dichotomer Repräsentationsmuster, ist dieser Feststellung die Beobachtung zur Seite zu stellen, dass die Fremd- und Selbstbezeichnung 'Nomaden' nicht allein von den sozioökonomischen Lebensverhältnissen bestimmt ist, sondern als Teil eines Aushandlungsprozesses verstanden werden muss, dessen Wertbezug jeweils eigenen Kontextualisierungen entspringt (Rachik 2000, 2007).

Vor diesem Hintergrund erweist sich ein weit gefasster Nomadismusbegriff als weiterhin hilfreicher Ausgangspunkt, da es gilt, verschiedene Typen des Viehhirten- und Reiternomadismus sowie auch des Teilnomadismus und bestimmte Formen von Transhumanz in die Untersuchung einzubeziehen. Auch für die dritte Phase gehen wir daher von einem Nomadismusverständnis aus, das folgende Aspekte beinhaltet: Erstens, Mobilität, welche permanent bzw. zyklisch und daher lebensformprägend ist und in der Regel in einer von exklusiven Heiratsregeln gekennzeichneten Gruppenorganisation erfolgt. Zweitens, eine Erschließung der Lebensgrundlagen, die sich durch extensive Weidewirtschaft oder andere durch Mobilität gewonnene Erwerbsquellen vollzieht. Drittens, dass sich Nomadismus über die Interaktion mit Sesshaften definiert.