Nomaden und Sesshafte in Steppen
und Staaten
Geschichte und Gegenwart im SFB 586
von Stefan Leder, in: Scientia Halensis 1/05, 19–22
Nomaden sind seit Jahrtausenden Teil und Träger der Zivilisationen im altweltlichen Trockengürtel von Marokko im Westen bis Nordchina im Osten. So wurden sie allerdings nicht immer wahrgenommen. Die Wissenschaft hat erst vor wenigen Jahrzehnten gelernt, Nomaden nicht als ein separates gesellschaftliches Phänomen, als eine faszinierende Sonderform menschlicher Lebensweisen zu sehen, sondern konsequent als Teil übergreifender gesellschaftlicher Gefüge zu betrachten.
Damit erscheint die Bedeutung von Nomaden in einem neuen Licht. Im langen Atem der Geschichte bildeten nomadische Bevölkerungen – auch quantitativ eine bedeutsame Größe – eigene Lebensformen aus, standen aber stets mit sesshaften Gesellschaften in mehr oder weniger engem Kontakt und haben Institutionen, soziale Strukturen und Wertvorstellungen mitgeprägt.
Nomadische Mobilität prägt eigene Lebensformen. Stetig zyklisches Wandern, in der Regel in Stammes- bzw. Familiengruppen, bedingt räumlichen und kulturellen Abstand zu sesshaften Gesellschaften. Dies lässt sich auch bei Roma und anderen fahrenden Völkern in Europa beobachten. Wirtschaftsweise, soziale Organisation, Rechtswesen, Normenwelt, Sprache und materielle Kultur von Nomaden unterscheiden sich in der Regel deutlich von ihrer sozialen Umgebung.
Vielfalt der Lebensformen
Nomadische Lebensverhältnisse weisen allerdings eine beachtliche Vielfalt auf. Besonders springt das historische Modell der berittenen Hirtennomaden ins Auge. Hochmobil und mobilisierbar, konnten sie sich lange gegen Staatswesen sesshafter Gesellschaften behaupten. Ihre zum Teil weit ausgreifenden Wanderbewegungen hatten nicht selten sesshaft besiedelte Territorien zum Ziel und konnten diese unter Druck setzen. Mit der Kontrolle über Transportwege und als dienstbare berittene Streitmächte verfügten sie neben ihren Herden über bedeutende Ressourcen, die sich nur im Kontakt mit sesshaften Gesellschaften erschlossen. Aber auch Kleinviehnomaden in den Steppen- oder Berggebieten haben seit alters neben nomadisierenden Formen der Weidenutzung andere ökonomische Aktivitäten, wie sporadischen Landbau oder Lohnarbeit, verfolgt.
Auf diese Weise sind nomadische und sesshafte Lebensformen seit alters miteinander verflochten. Friedliche Tauschbeziehungen stehen dabei neben im Einzelnen recht unterschiedlichen, zum Teil epochalen Konfliktkonstellationen, die von spezifischen Interessen, Werten und Identitäten geprägt sind. Ein Echo dieser Verhältnisse sind das Misstrauen, die Verachtung, aber auch die zivilisationskritische Idealisierung, welche sesshafte Mehrheitsgesellschaften in der Regel der anderen Gesellschaft von Nomaden entgegenbringen. Umgekehrt erweisen sich gesellschaftliche Strukturen und habituelle Eigenheiten von Nomaden als langlebig, auch nachdem sie ihre mobile Lebensweise aufgegeben haben.
Nomaden von heute
Die komplizierten Verhältnisse der Vergangenheit wirken noch heute fort. Zwar lässt die moderne Welt berittenen Hirtennomaden nur mehr wenig Platz. Im 20. Jahrhundert haben sich in den meisten Gebieten Ordnungsmächte etabliert und moderne Transportmittel durchgesetzt. Kampagnen zur Sesshaftmachung von Nomaden, die Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit durch Staatsgrenzen, aber auch die neuer Einkommensquellen ließen die auf Nomadismus gründenden Lebensformen allgemein an Bedeutung verlieren. Allerdings verlaufen diese Entwicklungen bis in die Gegenwart regional sehr unterschiedlich. Ökonomische und soziale Rahmenbedingungen, oft im Verein mit kulturellen Traditionen, können das Überleben pastoralistischer Nischen- und Reservewirtschaft, mitunter auch die Rückkehr zur nomadischen Weidenutzung fördern.
Vieles spricht dafür, dass die mobile Nutzung natürlicher Weiden Zukunft hat. Fern- und Wanderweidewirtschaft wird heute unter extremen Bedingungen in ariden Gebieten sowie in der Tundra, in der Regel unter Verwendung motorisierten Transports praktiziert. Mancherorts weist diese Wirtschaftsweise Zuwachsraten auf. Ökologisch angepasste, mobile Weidewirtschaft durch staatlich beaufsichtige und gezähmte Nomaden erscheint nationalen und internationalen Agenturen heute wieder als eine sinnvolle Option für regionale Entwicklungen. Allerdings müssen dazu tradierte Gewohnheiten, lokale Interessengegensätze und historisch gewachsene Feindbilder moderiert und überwunden werden.
SFB mit zahlreichen Teilprojekten
Geschichte und Gegenwart des Zusammenwirkens nomadischer und sesshafter Lebensformen prägen bis heute das Antlitz weiter Gebiete unserer Welt. In dem Sonderforschungsbereich 586 der Universitäten in Halle und Leipzig wird die Wirkungsweise dieses Verhältnisses nun bereits in der zweiten Förderphase (2004 bis 2008) in insgesamt 20 Teil- und Unterprojekten untersucht. Historiker, Archäologen, Geographen, Orientwissenschaftler und Ethnologen arbeiten zusammen, um die Bedingungen und Folgen von Kohabitation und Konfrontation der Lebensformen zu verstehen. Dabei wird auch nach den Gründen und Modalitäten für Verschwinden oder Wiederaufleben von nomadischen Lebensformen gefragt, und es werden die Sichtweisen aufgenommen, mit denen die Unterschiedlichkeit der Lebensweisen reflektiert und legitimiert werden.
Die Zusammenarbeit von Spezialisten auch für weit zurückliegende Epochen mit empirisch arbeitenden Sozialwissenschaftlern ist eine Herausforderung, weil evidente Veränderungen und Diskontinuitäten der Geschichte in die Verständigung über Vergleichbares einzubeziehen sind. Wie immer in derartigen Forschungsverbünden, vollzieht sich die Arbeit durch eine Vielzahl von Perspektiven und Ansätzen, aus denen sich ein Gesamtbild zusammensetzt.
Hirtengesellschaften, die in der Nähe von Städten temporäre Siedlungsplätze unterhielten, lebten schon früh mit sesshaften staatlichen Organisationen zusammen, wie die Archive des Stadtstaates von Mari am Euphrat (19./18. Jh. v. Ch.) in allen Einzelheiten belegen. Hier lässt sich verfolgen, wie das Verlangen staatlicherseits, die teilweise nomadischen Hirtengruppen zu kontrollieren und zu besteuern, ausbalanciert werden musste mit dem Vermögen der mobilen Hirten, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen und Beziehungen nach außen aufzubauen.
Auswirkung der Nomaden auf ihre Umgebung
Mit der Domestizierung des Pferdes und den resultierenden mobilen Lebensformen, insbesondere dem Aufkommen von pferdezüchtenden Reiternomaden im 2. Jahrtausend v. Ch., und mit der Nutzung des Kamels als Pack- und Reittier seit Anfang des 1. Jahrtausends v. Ch. entwickelte sich eine raumgreifende, zum Teil kriegerisch auftretende nomadische Mobilität.
Zu den Folgen dieser Entwicklung gehört, dass das Bild waffentragender Nomaden, wie auch Bestandteile ihrer Ausrüstung weithin Verbreitung fanden und zu einer Art Leitbild wurden. Nomadisch geprägte Herrschaften bzw. Staatsgebilde, wie sie zum Beispiel im Fruchtbaren Halbmond des 11. Jh. zu studieren sind oder durch Usbeken im 16. Jh. Gestalt annahmen, zeigen exemplarisch die Möglichkeiten und Grenzen der Anpassungsfähigkeit von Nomaden an die institutionellen Erfordernisse einer politischen Ordnungsmacht. Am Beispiel des Nahen Ostens lässt sich zudem im Detail zeigen, mit welch erheblichem Aufwand – und welchen Fehlschlägen – die Versuche verbunden waren, Nomaden zu beherrschen und integrierende Nomadenpolitik zu leisten. Für Nordafrika ist nachzuweisen, dass die nomadische bzw. überwiegend nomadisch geprägten Umgebung selbst auf die römische Herrschaft Auswirkungen zeigte, indem die Domänenwirtschaft hier eigene Verwaltungs- und Rechtsformen entwickelte.
Kennzeichnend für diese Wechselwirkungen sind nicht "Nomadensturm" oder "Nomadenstaat", sondern das Einwirken von Nomaden auf Gesellschaften und Staaten. Wenn heute gut bewaffnete Milizen von Hirtennomaden im Westen des Sudan gegen die bäuerliche Bevölkerung des Darfûr zu Felde ziehen, scheint damit auch ein uralter Gegensatz weiterzuleben. Doch handelt es sich nicht nur um einen Streit um Ressourcen in der Rivalität zwischen Weide und Feld, sondern um eine Konfliktkonstellation, die aus vorherigen Konflikten und politischen Rahmenbedingungen resultiert und aus dieser Dynamik unter anderem zu der Unterstützung der Janjaweed-Banden durch die sudanesische Regierung führte.
Diese Situation hat etwas Exemplarisches für Gegenwart und Geschichte. Auch die gegenwärtigen entwicklungspraktischen Perspektiven des befriedeten Nomadismus in Tibet und Zentralasien, im arabischen Nahen Osten und in Nordafrika werden wesentlich auf nationalen und internationalen Politikfeldern, oft fern ab vom Ort des Geschehens, bestimmt. Es bleibt eine Aufgabe der beobachtenden oder begleitenden Wissenschaft, die wirtschaftlichen Möglichkeiten der mobilen Weidewirtschaft und die soziale Funktion einer nomadischen oder als nomadisch wahrgenommenen Lebensweise aus dem lokalen Kontext in die Entscheidungsprozesse einzubringen.
Ebenso gilt die Bedeutung politischer Rahmenbedingungen für das historische Verhältnis zwischen Nomaden und Sesshaften. Denn die Einfälle mächtiger Nomadenverbände aus den Steppen, zum Beispiel zur Zeit der von Djingis Khan geführten Mongolen im 13. Jahrhundert oder zur Zeit der Expansion arabischer Stämme im 7. Jahrhundert, sind spektakuläre Ausnahmeerscheinungen. Ermöglicht durch das Wirken einer nach innen einigenden Idee bzw. Religion, waren sie begünstigt durch die Zustände in den eroberten Gebieten – China und Byzanz. Die Eroberungen gingen auch mit einer raschen Anpassung der Nomaden an die sesshafte Lebensweise und Staatsorganisation einher.
Die Wirkung des Nomadentums liegt auch in alternativen Weltsichten und Lebensauffassungen. Wie Beschreibungen der Schönheiten des Nomadenlebens, im arabischen Kontext schon seit der Spätantike bekannt, verdeutlichen können, regt die Differenz der nomadischen Lebensform zu den Lebensverhältnissen sesshafter Gesellschaften die Bildung von Konzeptionen an, in denen die symbolische Repräsentanz des Nomaden kollektiv wirksame Identifikationsangebote machen kann. Diese Vorstellungen erzeugten eigene, im arabischen Kontext besonders lang anhaltende Wirkungen.
Der nomadische Ursprung der Kasachen wird heute in Kasachstan als eine quasi nationale Identität betrachtet. Üblicher noch ist die Funktionalisierung des Negativbildes. Seit alter Zeit gilt in vielen Gesellschaften der Nomade als zivilisationsbedrohender Eroberer, oder, wie im kolonialen Kontext des zaristischen Russland, als ein kulturell inferiorer Wilder und – in der komplementären Idealisierung – als ein Wilder, der ursprüngliche menschliche Fähigkeiten bewahrt. Wesentliche Teile der Geschichte werden durch diese tradierten Wahrnehmungsraster, die uns auch in der aramäischen Literatur wieder begegnen, allerdings gänzlich ignoriert und müssen erst freigelegt werden.
Tatsächlich haben Nomaden nicht im Gegeneinander, sondern immer wieder im zivilisatorischen Miteinander gewirkt. Nomadisch geprägte Städte wie Hatra und Hira, die im Irak an der Grenze zum Steppenland gelegen in der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends n. Ch. blühten, sind Beispiele sowohl für die politische Integration in die persischen Großreiche wie für die komplexe Funktionalität der Mischung nomadischer und sesshafter Elemente bei den Bewohnern.
Nomaden und Sesshafte bilden in der Geschichte ein Beziehungsgeflecht, in dem sich auf fast allen Ebenen gesellschaftlichen Handelns Differenzaspekte und Konfliktlinien mit integrativen Bewegungen von beiden Seiten überkreuzen. Wenn diese für die Gegenwart immer noch prägenden Verhältnisse nun systematisch wahrgenommen werden können, entsteht ein neuer Baustein für unser Verständnis von Geschichte und Gesellschaft weiter Teile Afrikas und Asiens.