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31.07.2008
Nomadenjunge in Mali (Bild: AP Archiv) Nomadenjunge in Mali (Bild: AP Archiv)

Verteilungskämpfe der Nomaden

Forschungsprojekt von Wissenschaftlern aus Leipzig und Halle

Von Christian Forberg

Jahrtausende ist es her, dass Menschen sesshaft wurden, Tiere züchteten und Felder bestellten und die bis dahin dominierenden Lebensweisen Stück für Stück zurückdrängten. Eine war das Nomadentum, das mobile Leben mit Tieren, die von Weide zu Weide getrieben werden. Ausgestorben ist es noch lange nicht: Auf rund einem Viertel der Landoberfläche unseres Planeten leben Menschen immer noch als Nomaden.

Insgesamt zwei Jahre hat Ingo Breuer vom Orientalischen Institut der Uni Leipzig seit Beginn des Forschungsprojektes in Marokko verbracht, einige Monate in einem Flusstal am Südhang des Atlasgebirges, 2000 Meter hoch. Er hat Zugang zu vielen Familien gefunden, konnte sich einen Einblick in ihr Leben verschaffen und hat seine Erkenntnisse in einer Dissertation zusammengefasst. In ihr lässt er auch Bewohner zu Wort kommen, alles Männer. Lahcen zum Beispiel, 92 Jahre alt:

Es gibt Leute, die sagen, der Nomadismus funktioniert nicht mehr. Die Leute, die das sagen, wissen nicht Bescheid, denn Nomadismus ist nicht deren Beruf.

Von Beruf Nomade, arhhal wie es dort heißt - das sagen meist nur noch die ganz Alten, weil Nomadismus bis vor 50/60 Jahren tatsächlich fast die einzige Lebensweise in jenen sehr trockenen, arid genannten Gebieten war. Am kleinen Fluss selbst wurde meist Getreide angebaut, das vor allem Nahrung für die Familien war und ist.

Heute ist es umgekehrt. Noch in etwa 15 Prozent der Haushalte wird mobile Tierhaltung betrieben und leben Leute (zumindest zeitweise ) in Zelten. Das heißt: die Mehrheit geht teilweise oder komplett anderen Beschäftigungen nach und davon eben der Großteil als Lohnarbeiter.

Sonst, hat Ingo Breuer herausgefunden, würde die Familie stets am Rand des Existenzminimums leben. Also wurde Nomadismus eine Erwerbsform unter anderen innerhalb eines Familienverbandes.

Das sind Familien, die sind extrem diversifiziert. Die haben alle zwei, drei, vier, manchmal fünf verschiedene Einkommensquellen, und das ist aus deren Sicht auch ganz normal: Sie müssen sich vorstellen, diese Familien, diese ehemaligen Nomaden, leben in einem Umfeld extremer Unsicherheit. Sie haben klimatische Schwankungen, sie haben konjunkturelle Schwankungen, sie haben extrem fluktuierende Arbeitsmärkte, und im Kontext dieser Unsicherheit ist es für diese Familien absolut wichtig, dass man Risiken minimiert. Das heißt ein Teil der Familie lebt im Zelt, zieht mit der Herde rum, ein Teil der Familie wohnt vielleicht im Haus, im Dorf, betreibt Ackerbau, und ein weiterer Teil der Familie, insbesondere junge Männer, sind vielleicht in der Stadt unterwegs, als Tagelöhner.

Bassou, 52 Jahre alt, drückt diese Situation kurz so aus:

Nein, wir sind keine Nomaden. Wir arbeiten für Geld. Wir reisen und gehen an jeden Ort, an dem es Arbeit gibt.

Auch eine Art von Nomadismus, sagen einige Wissenschaftler, die den Mobilitätsbegriff wie einen Mantel über derart unstete Lebensformen ausbreiten. Was anderen wieder zuweit geht: Nomadismus sei im Kern die mobile Weidewirtschaft. Dazu gehört inzwischen auch, dass die Herden gut situierter Nomaden auch per Lastwagen auf sehr weit entfernte, saftigere Weiden transportiert werden. Vorausgesetzt, die Flächen sind allen zugänglich, was in Marokko oft noch der Fall ist, obwohl auch hier die Privatisierung der Weiden voranschreitet. In anderen Ländern des "altweltlichen Trockengürtels" (des viele Tausend Kilometer umfassenden und sich bis nach China erstreckenden Untersuchungsgebietes) ist es noch komplizierter geworden.
Dieses neuere Bild des Nomadismus in den Trockengebieten unserer Erde entspricht noch nicht einer allgemeinen Sichtweise. Einerseits werde es weitgehend geprägt von der Sicht der Sesshaften auf die Nomaden als "Fremde", sagt Jürgen Paul, Professor am Institut für Orientalistik der Uni Halle und stellvertretender Sprecher des Sonderforschungsbereiches:

Wenn man als tibetischer Nomade identifiziert ist in Tibet, bleibt man das, auch wenn man schon seit Generationen in der Stadt ansässig ist. Das ist ein sehr konservatives Phänomen, eine große Beharrung mit der Identifikation der Nomaden als solche. - Auch in Kasachstan kann man das feststellen.

Und sein Kollege Kurt Franz ergänzt:

Kulturell sind sie abgewertet worden, das Stadtleben ist die Norm geworden, nach europäischem Vorbild ist ein Bürgerideal geschaffen worden, das an den Staat gekettet ist und nicht mehr an den Stamm; also an mehreren Fronten gleichzeitig ist das nomadische Wirtschaftsleben, der Familienzusammenhalt, die politische Struktur und das kulturelle Selbstbild so schwer angegriffen worden, dass es fast immer zu einem Zusammenbruch der teilweise Jahrtausende alten Lebensweise gekommen ist. Es liegt am Beharrungsvermögen und an der Selbstidentifizierung dieser Gruppen, dass sie sich noch als Nomaden, Beduinen wie auch immer in welcher Sprache bezeichnen und eine Verbindungslinie zu ihrer Herkunft sehen.

Dieses Eigenbild macht die andere Seite des Bildes vom Nomadismus aus. Es stammt meist verklärend aus früheren Perioden, wie sie der alte Lahcen erlebt hat. Es ist vom Stolz auf Unabhängigkeit und - bei anderen Völkern - militärische Leistungen geprägt. Nomadismus sei früher eher ontologisch erforscht worden, sagt Kurt Franz, was heißt: sie wurden isoliert, abgegrenzt von anderen, sie umgebenden Lebensweisen untersucht und katalogisiert:

Das ist eine relativ junge Entwicklung der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Sozialwissenschaft die Interaktion in den Vordergrund stellt, die Vernetzung in den Vordergrund stellt und vor allem auch den Fakt, dass Nomaden und Sesshafte dieselben Räume bewirtschaften und aus den selben ökologischen Nischen unterschiedliche Lebensgrundlagen beziehen...

In seinem Teilprojekt untersucht er die Auswirkungen, die die Pest anno 1347 auf nordafrikanische Gebiete hatte. Eine Erkenntnis: die Sesshaften hat sie schlimmer getroffen als die Nomaden, die zeitweise weit in deren Räume vorrückten und mächtig wurden. Ohne die Kenntnisse der Nomaden, wie dieses Raumnehmen vonstatten ging, seien auch viele der Völkerwanderungen und Ausdehnungen alter Reiche nicht möglich gewesen, beschreibt Jürgen Paul eine Erkenntnis seines Projektes.

Aber das war einmal und wird sich in solcher Mächtigkeit kaum wiederholen. Es sei denn, die Verhältnisse ändern sich abrupt, wie in der Mongolei, als mit dem sozialistischen Staat auch die Sesshaftmachung der Nomaden zu Ende ging. Nun sind sie wieder welche geworden, aus der Not heraus.

Die versuchen das sehr intensiv. Nomadenleben ist eigentlich typisch mongolisch, daher müssten sie - weil sie Mongolen sind - auch nomadisch leben können. Aber es gelingt nicht wirklich.

In anderen Staaten sind Nomaden-Stämme wieder politisch opportun - man müsse nicht einmal bis Afghanistan schauen, sagt Dr. Franz:

Wer heute in Jordanien nicht zu einem Stamm gehört, wird Schwierigkeiten haben, seine Stammes- oder Regionalanliegen auf der politischen Bühne zu vertreten.

Nicht deshalb sehen die Forscher auch eine Zukunft für Nomaden: ihnen gelingt es anscheinend am ehesten, mit ungünstiger werdenden klimatischen Bedingungen zurecht zu kommen.

Für den syrischen Raum wissen wir, dass (quer durch die Geschichte) die sogenannte Grenze zwischen dem Kulturland und der Steppe sich immer wieder um 100 bis 150 km verschiebt. Das heißt nicht, dass die Bevölkerung immer hin und her "wackelt", sondern aus einem Reservoir verschiedener Wirtschaftsmöglichkeiten schöpft.

Wie diese auch ökologisch sinnvoll zu nutzen wären, untersucht ein neues Projekt, das gemeinsam mit dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig-Halle realisiert wird: in Modellen werden die bislang gesammelten Daten ausgewertet. Karin Frank leitet das Departement ökologische Systemanalyse:

Und jetzt ist die Frage: Was bedeutet diese Veränderung eigentlich? Was bedeutet sie für die Nomaden, was bedeutet sie für soziale Systeme, was bedeutet sie fürs Ökosystem - allein das sind ja schon wichtige Fragen, die man erstmal untersuchen muss, ohne damit ein Aktivelement haben zu wollen, das man da schon wieder hineinsteuern will. Ich glaube, das Bild trifft zumindest auf die Forschungen hier in diesem SFB sogar mehr zu, also erstmal zu verstehen, was dort passiert.


 
 

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