Kolloquium:
Akkulturation und Selbstbehauptung

14.12.2001

Ort: Halle, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsring 5 (Ecke Universitätsplatz), Hallischer Saal
Zeit: 14. Dezember 2001 9.00–17.00 Uhr
Kontakt: Dr. Ildikó Bellér-Hann · beller-hann@owz.uni-halle.de

Veröffentlichung: Mitteilungen des SFB "Differenz und Integration" 2: Akkulturation und Selbstbehauptung (Orientwissenschaftliche Hefte 4/2002).

Das Kolloquium befasst sich mit Formen und Voraussetzungen kultureller Angleichungsprozesse, welche aus dem Zusammenwirken nomadischer und sesshafter Lebensformen entstehen.

Die Koexistenz von nomadischen und sesshaften Lebensformen, deren Geschichte mehrere Jahrtausende zurückreicht, prägt noch heute ländliche und urbane Räume im Gebiet des altweltlichen Trockengürtels. Aus der Verflechtung der Lebensformen in ökonomischen und politischen Beziehungen sowie mit Ausdehnung nomadischer oder sesshafter Einflusssphären ergeben sich Prozesse der Angleichung, die in der Geschichte überwiegend als partielle Anpassungen an die Lebensformen der Sesshaften sichtbar werden. Sie können aber auch in umgekehrter Richtung erfolgen, wenn Bestandteile nomadischer Lebensformen aufgenommen werden. Dabei geht Anpassung in der Regel mit der Fortführung angestammter Lebensformen in gewandelter Umgebung einher. Dies ist auch bei der Transformation extensiver nomadischer Weidewirtschaft unter den Bedingungen der Moderne zu beobachten; denn sie bringt oftmals Mischverhältnisse zwischen herkunftsbedingten und übernommenen Wirtschaftsweisen, sozialen Strukturen und Werthaltungen mit sich.

Empfang:
Alle Teilnehmer des Kolloquiums sind herzlich eingeladen zum Empfang am 13.12., 19.30 Uhr, im Orientwissenschaftlichen Zentrum, Mühlweg 5.

 

Programme

14. Dezember 2001
Halle, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsring 5 (Ecke Universitätsplatz), Hallischer Saal

9.15 Uhr

Prof. Dr. Ulrich Braukämper, Institut für Ethnologie, Göttingen:
Wechselwirkungen zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen im 'Baggara Belt' der östlichen Sudanzone

10.00 Uhr

Dr. Virginia Martin, Geschichtswissenschaft, Huntsville/Alabama:
Resolving Nomadic Land Disputes in the Colonized Kazakh Steppe in the 19th Century

10.45 - 11.00 Uhr

Kaffeepause

11.00 Uhr

Prof. Dr. Fouad Ibrahim, Institut für Geographie, Bayreuth:
When Pastoralists Become Farmers. A case study of the Maasai of northern Tanzania

11.45 Uhr

Dr. Dawn Chatty, Deputy Director of the Refugee Studies Programme, Queen Elizabeth House, Oxford:
Adapting to Multinational Oil Exploitation. The mobile pastoralists of Oman

12.30 - 13.30 Uhr

Mittagessen: Universitätsring 5, Anhalter Zimmer (auf der Etage des neuen Senatssaals)

13.30 Uhr

Prof. Dr. Riccardo Bocco, Institut Universitaire d'Études du Développement, Genf:
Tribes,Tribalism and State-building in the Middle East during the 20th Century. Jordan as a case study in a regional perspective

14.15 Uhr

Dr. Burkhard Ganzer, Institut für Ethnologie, Berlin:
Harmonische Akkulturation und tribale Selbstbehauptung. Zur Stellung der iranischen 'ashayer gegenüber der Islamischen Republik

15.00 Uhr

PD Dr. Stephan Seidlmayer, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften:
Nubier und Nubisches im ägyptischen Kontext während des Alten und Mittleren Reiches

15.45 Uhr

Dieter Guldin, M.A., Ur- und Frühgeschichte, Oranienburg:
Früher Nomadismus im Spiegel einer neuen Betrachtungsweise

16.30 Uhr

PD Dr. Thomas Weber, SFB 295 Kulturelle und sprachliche Kontakte, Mainz:
Babylonische Militärkolonisten und die Räuber in der Trachonitis. Herodische Statuendenkmäler in Südsyrien als Zeugnisse für den Angleichungsprozess zwischen nomadischen und sesshaften Lebensformen

18.30 Uhr

Abendessen: Las Salinas, Kleine Klausstraße 3 (Ecke Oleariusstraße)

 


Bericht

"Akkulturation und Selbstbehauptung" – Unter diesem Titel fand am 14. Dezember 2001 das zweite Kolloquium des SFB 586 im Neuen Senatssaal der MLU Halle-Wittenberg statt. Nach Begrüßung und Einführung durch den Sprecher Stefan Leder (Orientalistik/Halle) moderierte Claus Wilcke (Altorientalistik/Leipzig) die auf englisch gehaltenen Vormittagsvorträge. Zunächst erläuterte Ulrich Braukämper (Ethnologie/Göttingen) am Beispiel seiner Forschungen im afrikanischen "Baggara-Belt" verschiedene Zwischenformen des Agro-Pastoralismus, die vom im Hof aufgestellten Zelt (vgl. das Logo des SFB) bis zur Viehleihe der Bauern an Hirten reichen können. Danach lenkte Virginia Martin (History/University of Alabama, Huntsville, USA) den Blick in die Kasachensteppe, wo die russischen Eroberer im 19. Jahrhundert über das Landrecht eine Nomadengesellschaft in Seßhafte, Mobile, Arme und Reiche differenzierten, was dann in der Sowjetepoche eine "antifeudalistische" Revolution zu rechtfertigen schien. Fouad Ibrahim (Geographie/Bayreuth) stellte wieder ein gänzlich anderes Interaktionsfeld vor: den Umgang der hirtennomadischen Maasai mit dem alltäglich konsumierten Mais, den immer mehr die eigenen Frauen selbst anbauen. Die ostafrikanischen Herdenbesitzer sind über diesen Verlust der pastoralen Reinheit nicht traurig, sondern begrüßen ihn im Interesse ihres Viehs, das nun nicht mehr gegen Vegetabilien eingetauscht werden muß. Einen anderen Wandel stellte Dawn Chatty (Refugee Studies Programm/University of Oxford) in dem beduinischen Kernland Oman vor: Industrielle Wasserversorgung hat dort die Weidegründe substantiell verbessert, andrerseits wurden diese durch die Priorität der Ölförderung stark eingeschränkt. Nach dem Scheitern verschiedener Sedentarisierungsprogramme versucht die Regierung nun andere Formen der Partizipation mobil lebender Hirten zu entwickeln, obwohl für junge Bedu die Ölfelder zweifellos attraktivere Arbeitsplätze bieten.

Die Nachmittagsvorträge leitete Bernhard Streck (Ethnologie/Leipzig), der in Burkhard Ganzer (Ethnologie/FU Berlin) einen der wenigen Iran-Ethnographen vorstellen konnte. Zur Überraschung des Publikums beschrieb Ganzer eine sehr seltene Allianz zwischen den nomadisierenden "ashayer" und dem islamistischen Regime, das jene als "Reserve der Revolution" schätzte und dafür Zugeständnisse z.B. beim Frauentanz machte. Stephan Seidlmeyer (Ägyptologie/Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) wagte dann den Versuch, das Ineinander von nomadisch-tribalen und seßhaft-staatlichen Komponenten aus den Grabungen in Oberägypten (3. und 2. Jahrtausend) zu rekonstruieren, und Dieter Guldin (Ur- und Frühgeschichte/HUB Berlin) erörterte die Schwierigkeiten, aus den Nachweisen einer seit -7000 bestehenden mobilen Tierhaltung auf eine nomadische Lebensweise zu schließen. Entscheidende Bedeutung kommt hier dem Vergleich zwischen rezenten und prähistorischen Nomaden zu, auch wenn bei letzteren die Grenze zum "multiresource nomadism"(Salzman) als der ältesten Kulturform der Menschheit wohl nie sauber gezogen werden kann. Die Vortragsreihe beendete Thomas Weber (Alte Geschichte/Mainz) mit sehr anschaulichen Ausführungen über seine Grabungen in Südsyrien. Das damalige Trachon war nach der Überlieferung von Flavius Josephus von höhlenbewohnenden Herdenhaltern besiedelt, deren Verhältnis zu Kulturzentren wie dem Tempel von Sahr (insbesondere zu dessen eben rekonstruierten Reiterdenkmal) noch zu klären ist. Auch dieses Beispiel veranschaulichte, wie in der langen Geschichte des Miteinanders von mobilen und seßhaften Lebensweisen die Mischformen wohl überwogen und Akkulturation keineswegs als Gegensatz zur Selbstbehauptung gesehen werden darf.