Projektbereich Ö: Öffentlichkeitsarbeit, Abschlussausstellung

Brisante Begegnungen

Nomaden in einer sesshaften Welt

17. November 2011 bis 20. Mai 2012

Mit einer umfangreichen, sechs Monate stehenden Ausstellung im Museum für Völkerkunde Hamburg hat der Sonderforschungsbereich 586 Differenz und Integration Einblicke in seine über zehnjährige Forschungsarbeit geboten. Die Ergebnisse von Ethnologen, Geographen, Historikern und Orientwissenschaftlern aller am SFB beteiligten Institutionen – Universität Leipzig,  Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Länderkunde, Helmholtz Institut und Max-Planck-Institut (MPI) für Ethnologische Forschung – wurden für die Ausstellung ausgewertet. Sie war im ganzen Haus auf annähernd 1.000 Quadratmetern an verschiedenen Stellen platziert und folgte so einem Kennzeichen des Nomadischen: Mobil, nicht ortsgebunden, Nischen nutzend oder an die jeweiligen Umstände angepasst.

Alle Antragsteller und Bearbeiter, die seit der ersten Phase im Jahr 2001 am SFB 586 beteiligt waren, wurden in die Konzeption mit einbezogen, auch wenn die sich vornehmlich auf textliche Überlieferungen stützenden historischen Wissenschaften ihre Ergebnisse zunächst nicht direkt für die Ausstellung geeignet sahen. Über einen Zeitraum von 5.000 Jahren und in der im SFB Forscherteam vertretenen regionalen Breite, die von Marokko über den altweltlichen Trockengürtel bis nach Tibet, Sibirien und in die Nordischen Länder reichte, ging es um die Alltagswirklichkeit von Nomaden und deren Verhältnis zu den Sesshaften. Auch wenn die Vielfalt nomadischer Lebenswelten vorrangiges Ziel dieser Ausstellung war, spielten die Interaktionen zwischen nomadischen und sesshaften Gesellschaften die für das Konzept der Präsentation entscheidende Rolle.

Differenz und Integration war Titel und Motto der interdisziplinären Forschung, die sich seit 2001 den unterschiedlichen Realitäten dieser Begegnung von Nomaden und Sesshaften, d.h. von einander Fremden widmete. Da sich die Muster der Begegnungen wie Typen wiederholen, folgten die in der Ausstellung gezeigten Beispiele weder der Chronologie der Ereignisse, noch der Geographie, sondern werden thematischen Feldern zugeordnet. In der Perspektive von Differenz und Integration geht es um die Wechselbeziehungen zwischen Nomaden und Sesshaften, zwischen „Mobilen“ und „Ortsfesten“, sowie um das Verhältnis von ‚Eigen/ das Selbe’ und ‚Fremd/ das Andere’. Wir gehen davon aus, dass das Verhältnis von Nomaden und Sesshaften von der Antike bis in die Moderne mit der Konstruktion des Fremden einhergeht, ein Vorgang, der bis in aktuelle politische Debatten – etwa um Migration und Integration – fortwirkt. Neben realer Fremdheit und Ferne sollten durch die Ausstellung und das Begleitprogramm auch Besonderheit wie Gemeinsamleiten vermittelt werden: als Gegengewicht gegen vereinfachende, romantisierende oder xenophobe Vorstellungen vom „Fremden“.

Diesem Gedanken folgte insbesondere eine zusätzliche Ausstellung, die zwar nicht aus einem Forschungsprojekt des SFB 586 direkt hervorgegangen ist, aber als wichtige und aktuelle Ergänzung notwendig erschien. Vom 5. Februar bis 6. Mai 2012 wurden in der Ausstellung „Wahlverwandtschaften – Imaginationen des Nomadischen“ Positionen zeitgenössischer Künstler zum Thema präsentiert.

BRISANT werden BEGEGNUNGEN zwischen unvertrauten Personen, oder wenn man auf unbekannte Situationen stößt oder sich auf fremdem Gelände befindet. Die Reaktionen derer, die eine mehr oder weniger vertraute Gemeinschaft bilden, folgen bis heute verschiedenen Mustern:

Ankömmlinge aus der Ferne werden willkommen geheißen, wenn sie mit brauchbaren Gaben im Gepäck anreisen: als Händler, Dienstleister, Gastarbeiter. Fremde, deren Herkunft ebenso unbekannt ist wie ihr Ziel, werden meist misstrauisch beäugt. Begegnungen zwischen Einheimischen und Fremden bergen ein brisantes Potential und pendeln zwischen Gastfreundschaft und Ignoranz, zwischen ökonomischem Kalkül und sozialer Ausgrenzung, zwischen nachbarschaftlicher Akzeptanz und Exotisierung, zwischen politischer Integration, Ghettoisierung und Vertreibung.

Im Hauptraum der Ausstellung standen, umgeben von einer Komposition typischer LANDSCHAFTEN, in denen Nomaden ihre Tiere weiden, Pferde, Yaks, Rentiere, Schafe, Ziege und Kamele. Nomaden leben nicht allein von der Viehzucht und ihren Produkten, sondern auch von dem, was sie in der Natur sammeln und auf den Märkten der Sesshaften zum Verkauf anbieten. Von den Landschaften führen verschiedene Wege in die Siedlungen der Sesshaften, die im Zentrum des Ausstellungssaales liegen und verstreut im ganzen Museum. Nomaden sind überall präsent, auch dort, wo man sie nicht erwartet.

In der RUINENSTADT waren Zeugnisse aus weit zurückliegender Vergangenheit ausgebreitet. Bruchstücke aus der Verwaltung belegen die Konstanten der Begegnung nomadischer und sesshafter Gesellschaften und sprechen von zentralstaatlichen Bemühungen um eine offizielle Integration sowie von einem staatlich geordneten Handelsaustausch oder der allmählichen Annäherung beider Zivilisationen, wie es die Gräberfunde aus dem Alten Ägypten deutlich zeigen.

Das ZENTRUM des Hauptsaales wurde der, für die nomadische Ökonomie wichtigste Funktion städtischer Siedlungen Raum gegeben: dort liegen Geschäfte und Märkte, in denen die Waren der Viehzüchtenden Nomaden verkauft und weiterverarbeitet werden. An den Rändern fester Siedlungen leben vielerorts die sogenannten Dienstleistungsnomaden in mobilen Behausungen, in Wohnwagen, Zelten und fahrbaren Containern.

In der sogenannten Stadt der ERINNERUNG wurde die Arbeit des SFB 586 thematisiert. Beispiele der wissenschaftlichen Erforschung und Motive der religiösen Welterklärung stehen nebeneinander.

Im Obergeschoss, im sogenannten Europasaal, zeigten wir eine Auswahl typischer Gegenstände eines Jurtenhaushalts turkmenischer Nomaden aus Iran. In einer Gegenüberstellung von HAUS und JURTE vergleichen wir den Umzug einer vierköpfigen Familie in England mit dem einer vierköpfigen Familie, die in einer mittelasiatischen Jurte lebt.

In der Gewölbehalle Obergeschosses war ein ZELT aus Syrien aufgebaut, das im Rahmen der Syrienforschungen des Teilprojektes A3 von Annegret Nippa 2010 in Hama erworben wurde.  Während der gesamten Ausstellung und besonders während der Begleitprogramme war dies der Ort von Lesungen und Gesprächen.

Im Indonesiensaal im Obergeschoss installierten wir eine Art KARAWANENSTATIONEN mit einer speziell dafür erarbeiteten Medienstation. Sie zeigt mit historischen Photographien den Weg klassischer Handelsrouten von Kairo bis nach Mittelasien.

Mit einem eigens für die Ausstellung entwickelten SPIEL, das im Afrikasaal im Erdgeschoss aufgebaut war, sollen die Entscheidungsfindungen des nomadischen Alltags spielerisch nachvollziehbar werden. Sie stellen sich den Unwägbarkeiten der Natur, müssen ihre Herden sicher und gut in das nächste Jahr bringen und taktisch klug auf Preisschwankungen und neue staatliche Verordnungen reagieren. All das wird im Laufe des Spiels verhandelt.

Am TEEWAGEN, der an wechselnden Standorten eingesetzt werden konnte, wird auf die mobile Gastfreundschaft eingegangen und auf die Präsenz der globalisierten Welt. In Kaffeehäusern oder selbst an ambulanten Teeplätzen versammeln sich Männer, die ein wenig Zeit haben oder auf Freunde warten. Selbst in entlegenen sudanesischen Dörfern besteht das Inventar einer kleinen Teestube aus Gegenständen, die aus der ganzen Welt kommen: aus Afrika oder dem Nahen Osten, aus China oder den Vereinigten Staaten.

Im Obergeschoss wurde auf dem ruhigen und von den anderen Ausstellungsräumen eigentlich schwer zu erreichenden Dachboden eine Inszenierung mit der Anmutung einer Steppe eingerichtet. Unter der STEPPENSONNE warten trockene Pflanzen auf den Regen des Frühjahrs. Hinter dem Horizont erstreckt sich die Steppe immer weiter, liegen die Zelte befreundeter Nomaden und in weiter Ferne die Siedlungen der Sesshaften.