Abschlussausstellung

Wahlverwandtschaften

Imaginationen des Nomadischen in der Gegenwartskunst

7. Februar bis 6. Mai 2012

Die im Februar 2012 eröffnete Ausstellung Wahlverwandtschaften (Film: „Aufbau Wahlverwandtschaften 2012“) galt als eine Erweiterung der Ausstellung Brisante Begegnungen. Nomaden in einer sesshaften Welt; während diese sich den ökonomischen, politischen und sozialen Begegnungen von Nomaden und Sesshaften widmete,  beleuchtet Wahlverwandtschaften die Fantasien, Analogien und Metaphern von bildenden Künstlern in ihrem Verhältnis zum Nomadischen.

Aufbau Wahlverwandtschaften 2012

 
Beteiligte Künstler: Daniel Baker / Joseph Beuys / Olaf Holzapfel / Bettina Hutschek / Damian Le Bas / Wilhelm Müller / Rémy Markowitsch / Ulrike Ottinger / Nada Sebestyén /Maja Weyermann / Akram Zaatari

Gastkurator: Peter Herbstreuth

Der Begriff des Nomadischen zirkuliert mit so hoher Frequenz, dass die offensichtliche Faszination, die von ihm ausgeht, zum Namen ohne Eigenschaften geworden ist. Nomadisch gilt als Sinnbild globaler freier Bewegung im sozialen und technisch vernetzten Raum. Jede Form von intellektueller, körperlicher und visueller Mobilität kann in die Nähe des Nomadismus lanciert werden – so auch das Selbstverständnis von Künstlern und viele Spielformen der Kunst.

Wahlverwandtschaften versachlicht die Bezüge. Sie zeigt Werke, die das Nomadische inhaltlich und formal aufnehmen und nicht auf bloße Mobilität und Lifestyle reduzieren. Die ausgewählten Künstler nähern sich dem Thema über direkte Begegnungen mit Nomaden, über metaphorische Zugänge oder über wesenverwandte Strukturprinzipien.

 Maja Weyermann, about paradise; Foto M. Venne

Maja Weyermann fragt in ihrer Videoarbeit Real-Time-Nomads Migranten nach Erinnerungs­räumen ihrer Kindheit und lässt diese als virtuelle Räume lebendig werden. Ihre neueste Video­arbeit  about paradise I/II wurde speziell für „Wahlverwandtschaften” produziert. Sie portraitiert zwei Hamburger Teppichhändlerfamilien aus dem Iran. Überschneidungen zwischen Erlebtem und Imaginiertem in Bezug auf das Nomadische beschreibt auch Joseph Beuys' Erzählung von den Krimtataren, die ihn nach einem Flugzugabsturz im Zweiten Weltkrieg davor bewahrten, seinen Verletzungen zu erliegen. Der mit Fett, Filz und einer Taschenlampe bepackte „Schlitten” (1969) markiert den Einzug des Nomadismus in die bildende Kunst: „Wir befinden uns in einer nomadischen Kultur. Der Geist muss ohne feste Weltanschauung auskommen (J. Beuys, 1969).

 In einer Ausstellung; Daniel Baker, Josef Beuys, Olaf Holzapel, Foto P. Herbstreuth

Die Filmemacherin und Fotografin Ulrike Ottinger übernimmt in ihrem Film „Taiga“ (1992) Erzählstrukturen von viehzüchtenden Nomaden in der Nordmongolei und setzt sie mit prächtigen Bildern in ihrem Filmepos in Szene. Ihre formale Umsetzung folgt dabei dem nomadischen Prinzip wurzelloser Verzweigungen. Olaf Holzapfel spricht vom „Nomadismus der Formen“ und betont unabhängige, selbst­organisierte und flexible Lebensweisen. Seine Suche nach dem lokalen Wissen in einer globalisierten Welt führte ihn auch zu Waldnomaden im Norden Argentiniens; das Ergeb­nis dieser Zusammenarbeit ist das „Temporäre Haus“.

Der Medienkünstler Akram Zaatari bezieht sein Arbeitsmaterial aus dem Fundus der Arab Image Foundation in Beirut, dessen Mitbegründer er ist. Mit seinen Bearbeitungen historischer Fotografien erzählt er die visuelle Geschichte des Nahen Ostens. In den Video- und Fotosequenzen JPG File„Desert Panorama“ inszeniert er mit dem Material eines Beduinenforschers die Wüste als Phantasie eines Städters.

 Nada Sebestyén, Foto P. Herbstreuth

Nada Sebestyén lässt sich von Nomaden inspirieren und entwirft Textilien für moderne Stadtnomaden, die Kleidung und Behau­sung zugleich sind. Die treibende Frage für ihre Arbeit „Wo, wann und wodurch wird der Mensch heimisch?“ geht von einem prinzipiell nomadisierenden Leben aus. Textilien von Nomaden sind auch Thema bei Wilhelm Müller. Er hatte in den 1980er Jahren die Teppich­sammlung am Dresdner Völkerkundemuseum aufgebaut und dann JPG FileStrukturelemente der Nomaden­teppiche in seine konkret-konstruktive Malerei (JPG FileWilhelm Mueller, 26.8.91) übernommen.

 In einer Ausstellung; Damian Le Bas, Daniel Baker, Josef Beuys, Josef Beuys. Foto, P. Herbstreuth

Einen forschenden Zugang zum Thema hat auch Daniel Baker.  Er ist Multimediakünstler, Soziologe und Vorstand des englischen Gypsy Council. „Meine Arbeit beschäftigt sich mit dem imaginären Raum der Zigeuner und öffnet ein Fenster auf das marginale Gebiet, das ihnen zuge­wiesen wird“. Ein direkter Bezug ergibt sich ebenso für Damian Le Bas , einem Vertreter der Outsider Art, der durch die Heirat mit einer Angehörigen der englischen Travellers zum Wahl­ver­wandten ihres Clans geworden ist. Seine mental maps ignorieren nationale Grenzen und ent­sprechen dadurch dem Fahrverhalten der English Travellers. 

 In einer Ausstellung; Rémy Markowitsch, Akram Zaatari, Josef Beuys. Foto, P. Herbstreuth

Die fotografischen Durch­leuchtungen von Rémy Markowitsch sind Ergebnis seiner Expeditionen ins Innere von Reise­büchern und Fotobildbänden. Seine Audioinstallation „On Travel“ besteht aus Zitatfolgen, die er als imaginäre Reise inszeniert. Lesen wird zum Rausch. Die visuellen Überlagerungen seiner Fotografien entsprechen den akkumulierten Zitaten von H. M. Enzensbergers „Nomaden im Regal“.

Die Performerin Bettina Hutschek führte durch Brisante Begegnungen und erzählte zu den Exponaten fiktive Geschichten und verband auf überraschende Weise beide Ausstellungen.

Katalog zur Ausstellung, Gudrun Schröder Verlag, Leipzig, 2012, 12,90 Euro.

In Kooperation mit dem SFB 586 "Differenz und Integration". Gefördert von der DFG und dem Institut für Ethnologie der Universität Leipzig.