Abschlussausstellung

Pressespiegel zur Ausstellung "Wahlverwandtschaften"

5. Februar - 6. Mai 2012, Völkerkundemuseum Hamburg

Träume vom Anderen (taz, 13.02.2012)
"Wahlverwandtschaften": Elf Nomaden müsst ihr sein (Hamburger Abendblatt, 21.02.2012)
Museum für Völkerkunde: Wahlverwandtschaften (Hamburg Magazin, Februar 2012)
Urbane Nomaden (Szene Hamburg, März 2012)
Wahlverwandtschaften (Kunstforum Nr. 215, April-Juni 2012)

Träume vom Anderen

Parallel zur wissenschaftlichen Befassung zeigt das Hamburger Völkerkundemuseum, welchen Blick zeitgenössische Künstler auf das Nomadische werfen.
von Hajo Schiff (taz, 13.02.2012)
 Epische Zeitdehnung: Ulrike Ottingers "Wer ein weißes Rentier hat, braucht sich vor dem tiefen Schnee nicht zu fürchten".

HAMBURG taz | Von Krim-Tataren gerettet und nach dem Flugzeugabsturz in Filz und Fett gehüllt: Kaum ein Künstler hat durch eine mythische Biografie sein oft schamanenhaftes Auftreten so sehr immer wieder dem Nomadischen unterstellt wie Joseph Beuys. Da ist er in einer Kunstausstellung, die sich den "Imaginationen des Nomadischen" widmet, ein notwendiger Teilnehmer: mit einem Schlitten mit aufgeschnallter Filzdecke, Fett und Taschenlampe, einem "geistigen Gefährt".

In einem ethnologischen Museum ist sowas nur selten anzutreffen, denn nur selten wird wie jetzt im Hamburger Museum für Völkerkunde ein Ausstellungsthema - das Nomadische - mit einer Schau zeitgenössischer Kunst kombiniert. Gut, dass es nun passiert, denn das Ergebnis ist höchst spannend.

Trotz mancher Bezüge zum wissenschaftlichen Begriff des Nomadischen verwendet die Kunst davon eine eigene, von romantischen Umdeutungen nicht freie Vorstellung: In künstlerischer Theorie und Phantasie kann jedes Ausbrechen aus starren Ordnungen mit der Idee des Nomadischen in Verbindung gebracht werden, jedes ungeplante Umherschweifen, alles Fließende, Mobile und Unbestimmte.

"Wahlverwandtschaften" ist in Anbetracht dieser keineswegs deckungsgleichen Nähe zur Ethnologie ein guter Titel für die Ausstellung, die der Kunstkritiker Peter Herbstreuth kuratiert hat. Kleidung als tragbares Haus für "Stadtnomaden" oder Hörcollagen von Reiseberichten sind deshalb ebenso Teil des Themas wie noch zu DDR-Zeiten gezeichnete Archivkarten der Dresdner Sammlung von Nomadenteppichen. Der nach Meinung des Kurators bisher unterschätzte, 1999 gestorbene Maler Wilhelm Müller nahm deren unendlichen Rapport und deren Detail-Strukturen zum Vorbild seiner abstrakten, mit Kordeln aufgeteilten monochromen Bilder.

Direkt gegenüber dem Schlitten Beuys steht ein anderes prächtig-kitschiges und paradoxes nomadisches Phantasiegefährt: zwei alte Holzräder mit goldener Kunststoffgardinenstange als Achse. Der im englischen Kent geborene Künstler Daniel Baker hat am Londoner Royal College of Art über "Gypsy Aesthetics" promoviert und war mehrfach an den Pavillons der Roma auf der Biennale in Venedig beteiligt.

Neue Gypsy-Generation

Baker versteht sich ausdrücklich als Gypsy einer neuen Generation. Die will sich keineswegs integrieren und findet das auch gut so: Eine Straßenkarte des Vereinigten Königreichs überzeichnet so auch Damian Le Bas selbstbewusst mit der Fiktion zigeunereigener Routen.

Die verschiedenen Wegesysteme auf dem freien Land und in der Stadt sind auch Thema des Dresdner Künstlers Olaf Holzapfel. Sein die Ausstellung dominierendes "Temporary House" von 2010 ist eine Art Zelt, aus großen farbigen Tüchern zusammengebunden. Die Elemente sind aus Chaguar gehäkelt, einer besonderen Kakteenfaser, von den Handwerkern der Wichi, einem Volk von ehemaligen Waldnomaden im Norden Argentiniens. Sie haben Computerentwürfe von Wegesystemen mit ihren naturfarbenen Landschaftsabstraktionen kombiniert. Stadtplan und Stadtplane zugleich verbindet dieses zusammenlegbare Wanderzelt als skulpturales Bild strukturierte Stadt und durchstreiftes Land, einstige Nomaden und städtische Obdachlose.

Scheinbar ganz ethnografisch geben sich die Wüstenfotos von Akram Zaatari. Doch die von ihm gezeigten Bilder sind wahr und falsch zugleich. Zwar stammen die schwarz-weißen Bilder, die der libanesische Künstler verwendet, aus einem alten Fundus - aber die Montage ist erkennbar neu. Irgendwie falsch sind zudem schon die Ausgangsmaterialien aus der durch den Künstler 1997 mitgegründeten Arab Image Foundation: Die in den Fotos des syrischen Beduinenforschers Jibrail Jabbur in der Wüste stehenden Frauen erwecken einen eher städtischen Eindruck. Sie scheinen zwar am richtigen Ort, sind aber schon damals nur verkleidet. Es ist im Zugriff eines städtischen Wissenschaftlers auf die Nomaden ein Fall von Binnenexotik, eines orienteigenen Orientalismus.
Zweifel am Authentischen

Solche mehrfachen Zweifel an der Aura des Authentischen sind schon an sich interessant, erst recht im Kontext wissenschaftlicher Dokumentationen ethnologischer Museen. Und doch behält die reine Dokumentation ihre Faszination: In der letzten Nische zeigt Ulrike Ottinger hinter schwarzem Vorhang 501 Minuten lang Szenen aus der Taiga. Diese ruhige Filmerzählung von 1992 übersteigert in ihrer epischen Zeitdehnung noch die ethnologische Beobachtung.

Wenn sich der Sonderforschungsbereich "Differenz und Integration", in dem 90 Wissenschaftler aus 15 Disziplinen elf Jahre gearbeitet haben, zu der großen Abschlussausstellung im Museum für Völkerkunde auch eine kleine, exquisite Schau mit elf Positionen aktueller bildender Kunst leistet, so darf ein wenig Selbstkritik nicht fehlen: Genaues ethnologisches Hingucken muss längst nicht mehr nur in fernen Ländern stattfinden, es sollte auch auf die eigene Arbeit angewendet werden.

Bettina Hutschek begnügt sich in ihrem Video nicht mit Zweifeln im Detail. Die Berlinerin findet in ihren ganz besonderen Führungen durch die "Brisante Begegnungen" betitelte Nomaden-Ausstellung einige Räume weiter erstaunliche Interpretationen: Sie behauptet, die Beschäftigung mit Nomaden sei vom Bundesnachrichtendienst in Auftrag gegeben, um grenzüberschreitende Aktivitäten besser zu verstehen - und zu kontrollieren.

Das stieß am Eröffnungswochenende auf einigen Protest von Zuschauern, die über eine derart explizit eurozentrische und ausschließlich an Gefahrenabwehr interessierte Argumentation dann doch überrascht waren. Aber die gezeigten Dinge und Techniken sind eben für Schmuggel, Infiltration oder Terrorismus zu verwenden.

Zugespitzte Ängste

Und die Sichtweise dieser Performance spitzt nicht nur die seit Jahrtausenden vorhandenen Ängste der Sesshaften vor den Nomaden pointiert zu. Sie öffnet auch die Diskussion über die jeweilige zeittypische Indienstnahme der Ethnologie - für die besonderen Interessen der Forschenden gegenüber den Beforschten.

"Wahlverwandtschaften": Elf Nomaden müsst ihr sein

Die Ausstellung "Wahlverwandtschaften" im Völkerkundemuseum zeigt den Einfluss nicht sesshafter Völker auf die moderne Kunst.
von Matthias Gretschel (Hamburger Abendblatt, 21.02.2012)
 Ulrike Ottinger fotografierte diese Gruppe von Ringern 1992 auf dem Fest des Hammelbrustknochens in der Taiga (Foto: Ottinger)

VÖLKERKUNDEMUSEUM. "Wahlverwandtschaften" heißt der programmatische Titel einer Ausstellung im Museum für Völkerkunde, in der es um "Imaginationen des Nomadischen in der Gegenwartskunst" geht. Die Schau ergänzt die große Nomaden-Ausstellung, die das Haus an der Rothenbaumchaussee in enger Kooperation mit Wissenschaftlern der Universitäten Leipzig und Halle zeigt. Während es dort um eine interdisziplinäre Darstellung der Vielfalt nomadischer Lebensformen und deren oft konfliktreiche Beziehung zur sesshaften Welt geht, steht hier die künstlerische Auseinandersetzung im Vordergrund.

Man könnte den Bogen bis ins 19. Jahrhundert ziehen, als sich Künstler noch unter kolonialem Blickwinkel mit dem Nomadischen beschäftigten oder diese scheinbar ungebundene Lebensform romantisch verklärten. Doch das Konzept, das Ausstellungskurator Peter Herbstreuth zugrunde legt, setzt erst 1969 ein - und zwar mit einer Ikone der Nachkriegskunst.

"Der mit Filz, Fett und einer Taschenlampe bepackte 'Schlitten' von Joseph Beuys, den wir in der Ausstellung zeigen, markiert den Einzug des Nomadischen in die bildende Kunst", sagt der Kurator, dem es darum geht, inhaltliche Bezüge aufzuzeigen. "Wir befinden uns in einer nomadischen Kultur. Der Geist muss ohne feste Weltanschauung auskommen", hatte Beuys konstatiert. Künstler konnten das Nomadische als Ungebundenheit oder als Unbehaustheit verstehen, hatten aber vielfach wenig Bezug zum realen Leben der Nomaden.

Die Ausstellung präsentiert jedoch vor allem Werke von Künstlern, die das Nomadische nicht nur auf einen mobilen Lebensstil reduzieren, sondern es inhaltlich und formal aufnehmen. So porträtiert Maja Weyermann mit ihrer eigens für die Ausstellung produzierten Videoarbeit "about paradise I/II" zwei Hamburger Teppichhändlerfamilien, die aus dem Iran stammen.

Und der britische Multimediakünstler Daniel Baker, der Soziologe und Vorstand des englischen Gypsy Council ist, hat einen ebenso forschenden wie spielerischen Zugang zum Thema. Von ihm stammt das Objekt "Empress", das eine mit goldenem Tand geschmückte Achse eines Zigeunerwagens mit zwei Holzrädern zeigt.

Von besonderer Ernsthaftigkeit und einer tiefen ästhetischen Beeinflussung zeugen die Arbeiten des Dresdner Künstlers Wilhelm Müller (1928-1999). Da sich seine Kunst nicht in Übereinstimmung mit der offiziellen Doktrin bringen ließ, durfte Müller in der DDR nicht offiziell ausstellen. Er arbeitete als Zahnarzt, war aber zugleich ein anerkannter Experte für ostasiatische Kunst und nomadische Teppiche. Von deren Materialität und Farbigkeit ließ sich Müller zu seinen konstruktivistischen Gemälden in Autometallic-Lack anregen, deren Oberflächen er - in Anlehnung an die geometrische Ordnung von Kelims - mit aufgelegten Schnüren gliederte.

Museum für Völkerkunde: Wahlverwandtschaften.
Imaginationen des Nomadischen in der Gegenwartskunst

(Hamburg Magazin, Februar 2012)
 Olaf Holzapfel: Temporäres Haus, 2010. Courtesy: Olaf Holzapfel/Johnen Galerie, Berlin

Vom 5. Februar bis 6. Mai 2012 zeigen 40 Arbeiten von 12 Künstlern imMuseum für Völkerkunde die Vorstellungen über das Nomadische in der Gegenwartskunst. Die Ausstellung ist ebenso Gegenstück wie Erweiterung der gleichzeitig laufenden Ausstellung "Brisante Begegnungen. Nomaden in einer sesshaften Welt".

Nomaden haben Hochkonjunktur. Schlagwörter wie Mobilität und Flexibilität fließen wie selbstverständlich durch unsere (post)modernen Diskurslandschaften. Sie artikulieren sich in ständig wechselnden Arbeitsverhältnissen, Freizeitstress und laufenden Projekten an unterschiedlichen Orten, quellen in Form unaufhörlich aktualisierter Informationen aus dem World Wide Web, diffundieren als Gespräche einer global vernetzten und mobilen Kommunikation und manifestieren sich in Form flexibler Holzregal-Cluster in unseren Wohnzimmern.

Doch was hat die Beweglichkeit der Nomaden mit den Mobilitätszwängen der (post)modernen Sesshaften zu tun? Ist "ihre" Mobilität nicht eine Überlebensstrategie und "unsere" eine Zeitgeisterscheinung? Welche Bilder entwerfen Künstler, die sich nomadische Methoden zu Eigen gemacht haben? Fragen wie diese wirft die Gruppenausstellung "Wahlverwandtschaften. Imaginationen des Nomadischen in der Gegenwartskunst" auf, die sich mit der Beziehung von Nomaden und Sesshaften auseinandersetzt.

Nach Gemeinsamkeiten suchend, geht es den bildenden Künstlern darum, Stereotype aufzubrechen. Durch die Sprache unterschiedlicher Medien wie Installationen, Gemälde, Fotografien, Videoportraits, Psychogeographien, Wissenslandschaften und Textilverarbeitungen illustrieren 12 internationale Gegenwartskünstler, wie sich nomadisches Denken nicht nur in der Kunstproduktion, sondern auch im sesshaften Denken äußert.

Die sowohl künstlerischen als auch utilitaristischen Ansätze zu nomadischem Denken und Handeln fördern Affinitäten und Kontroversen zutage: auf der einen Seite die Sympathien der Künstler, die sich teilweise mit Nomaden identifizieren und deren Kultur und Lebensweise in ihre Werkkomplexe mit einbeziehen. Auf der anderen Seite das Interesse der Forschung, der Informatik und der Politik, das sich das nomadische Denken und dessen Bewegungsabläufe einverleibt, um damit neue intelligente Formen der Netzwerkanalyse, Kriegsführung und Kriminalitätsbekämpfung zu entwickeln.

Durch dieses breite Darstellungsspektrum führt die Ausstellung dem Betrachter auch den eigenen Umgang mit dem Fremden vor Augen und verheimlicht dabei nicht, dass die Grenze zwischen Erlebtem und Imaginierten auch durchaus fließend sein kann. Erfahrung und Fantasie verdichten sich in den gezeigten nomadischen Objekten zu neuen Bildern und Narrativen, die nicht nur neue Wahlverwandtschaften enthüllen, sondern dem Betrachter auch ungewohnte Lesarten abverlangen.

Die Ausstellung ist entstanden in Kooperation mit dem SFB 586 "Differenz und Integration" der Universitäten Leipzig und Halle-Wittenberg und wird von Peter Herbstreuth kuratiert. Folgende Künstler sind beteiligt: Daniel Baker, Joseph Beuys, Olaf Holzapfel, Bettina Hutschek, Damian Le Bas, Wilhelm Müller, Rémy Markowitsch, Ulrike Ottinger, Nada Sebestyén, Maja Weyermann und Akram Zaatari.

Urbane Nomaden

Modernes Update: Imaginationen des Nomadischen im Museum für Völkerkunde
von Stefanie Maeck (Szene Hamburg, März 2012)

Urbane Nomaden sind heute überall. Mit Laptop sitzen sie im Café als all die digital vernetzten, mobilen und von der Anwesenheit in einem Unternehmen befreiten Selbstständigen. Doch auch in der Wissenschaft hat sich das Nomadische eingeschlichen, es regiert all jene Nachwuchskräfte, die von einem befristeten Vertrag zu nächsten taumeln. Erst recht ist es aber im Bereich der Kunst zu finden, wo prekäre Lebens- und Karrierebedingungen eine Flüchtigkeit und Unverbindlichkeit generieren. Wer heute etwas werden will, muss sein Selbst flexibel ausbeuten und sein Heim nomadisch definieren. Das Nomadische hat genug intellektuelle Streukraft, um in einer Ausstellung beleuchtet zu werden. Und die besten Momente hat die Ausstellung im Museum für Völkerkunde immer dann, wenn sie nicht mit der ethnologisch-dokumentarischen Brille schaut, sonderen freie und abstrakte Übertragungen jenseits von Romantizismus oder Wehklage sucht.

Ein wenig ironisch, aber mit Schlagkraft kommen die Textilien von Nada Sebestyén daher: Nur eine Sonnenbrille markiert hier die Differenz zwischen avantgardistischem Ethnoschick und Pennerassoziation. Doch wie war das noch? Eine Journalistin führte den Begriff "urbane Penner" für all die schicken "digitalen Nomaden" ein. Besonders gelungen reflektieren die Arbeiten des Dresdner Künstlers Olaf Holzapfel das Nomadische. Allen voran sein "temporäres Haus", eine begehbare Skulptur, die im Dialog mit den "Wichis", einer indigenen Minderheit Argentiniens entstand. Holzapfel spricht auch von einem "Nomadismus der Formen", der als neue Abstraktion in seinen Bildern wiederkehrt und nicht zuletzt kartographiert er mit Visitenkarten von Shops, Diskotheken, Bars usw. einen urbanen Metropolenraum. Kapitalistische Nomaden verstehen diese Semiologie.

Gleich am Eingang der Schau zeigt Beuys' "Schlitten", wie das Nomadische überhaupt in die Kunst kam. Beuys knüpft an das Gefährt die Legende seiner Rettung durch die Krimtataren nach einem Flugzeugabsturz, freilich reichlich fiktional überhöht. Spannend sind auch die Landvermessungen im Land der Gypsies, bunte "Mental Maps", die Damian Le Bas ausstellt und die mit kindlicher Freude zwischen Kulturen hüpfen.

Schwächere Momente wohnen der Ausstellung als teilweise ethnologisch-dokumentarische Annäherung inner, allein schon durch die Geräuschkulisse mehrerer Filmarbeiten, die die nomadisch-vagabundierende Aufmerksamkeit des Besuchers nicht wirklich fesseln.

Wahlverwandtschaften

"Imaginationen des Nomadischen in der Gegenwartskunst"
Museum für Völkerkunde, Hamburg, 7.2. - 6.5.2012
von Hajo Schiff (Kunstforum Nr. 215 / April-Juni 2012)

Ein Schlitten, ein Zelt, Fotos von Beduinen und ein Video aus der Mongolei - ales das ist in einem Museum für Völkerkunde zu erwarten. Doch hier sind es keine mehr oder weniger authentischen Verweise auf andere Lebensweisen, sondern autonome Kunstwerke: Der Schlitten ist der von Joseph Beuys mit Filzdecke, Fett und Taschenlampe von 1969.

Prompt liegt die Frage nahe, wass denn magischer sei: Ein ethnologisch nachweislich religiöses Objekt der Schamanen oder ein Artefakt aus dem System der sog. "westlichen" Kunst. Kaum ein anderer Künstler hat selbst so viele Bezüge zu Schamanen und Nomaden behauptet, wie Joseph Beuys. So ist sein "geistiges Gefährt" in einer den "Imaginationen des Nomadischen" gewidmeten Kunstausstellung unbedingt notwendig.

Die vom Kunstkritiker Peter Hebstreuth kuratierte Schau ist ein Experiment: Nur selten wird eine völkerkundliche Schau parallel mit zeitgenössischer Kunst kombiniert. In Anbetracht der von Ethnologie abweichenden Kontextualisierung ist "Wahlverwandtschaften" ein passender Titel. Denn Kunst verwendet eine eigene, von romantischen Umdeutungen nicht freie Vorstellung des Nomadischen: In ihrer Phantasie kann jedes Ausbrechen aus starren Ordnungen, jedes ungeplante Umherschweifen, alles Fließende, Mobile und Unbestimmte mit der Idee des Nomadischen in Verbindung gebracht werden.

Kleidung als tragbares Haus für "Stadtnomaden" (Nada Sebestyén), Videos über Hamburger, aus dem Iran stammende Teppichhändler (Maja Weyermann) oder Foto- und Hörcollagen von Reiseberichten (Rémy Markowitsch) sind deshalb ebenso Teil der Ausstellung wie noch zu DDR-Zeiten gezeichnete Archivkarten der Dresdner Sammlung von Nomadenteppichen. Der nach Meinung des Kurators unterschätzte, 1999 gestorbene Maler Wilhelm Müller nahm deren unendlichen Rapport und deren Detail-Strukturen zum Vorbild seiner abstrakten, mit Kordeln aufgeteilten monochromen Bilder.

Gegenüber dem Schlitten von Beuys steht ein anderes, prächtig-kitschiges und paradoxes nomadisches Phantasiegefährt: Zwei alte Holzräder mit goldener Kunststoffgardinenstange als Achse von Daniel Baker. Der in Kent geborene Künstler hat über "Gypsy asthetics" am Londoner Royal College of Art promoviert und war an den Pavillons der Roma auf der Biennale in Venedig beteiligt. Er versteht sich ausdrücklich als Gypsy einer neuen Generation. Die will sich keineswegs integrieren und findet das auch gut so: Eine Straßenkarte des Vereinigten Königreichs überzeichnet sein Kollege Damian Le Bas selbstbewusst mit der Fiktion unzählig vieler zigeunereigener Routen.

Die verschiedenen Wegesysteme in Stadt und Land sind auch Thema des Dresdner Künstlers Olaf Holzapfel. Sein die Ausstellung dominierendes, zuletzt im Lateinamerika-Pavillon in Venedig gezeigtes "Temporary House" ist eine Art Zelt, aus großen farbigen Stoffen zusammengebunden. Die Elemente sind aus der Kakteenfaser Chaguar von den Wichi gehäkelt, einem Volk von ehemaligen Waldnomaden im Norden Argentiniens. Sie haben Computerentwürfe von Wegesystemen mit ihren naturfarbenen Landschaftsabstraktionen kombiniert. Stadtplan und Stadtplane zugleich, verbindet dieses zusammenlegbare Wanderzelt als skulpturales Bild strukturierte Stadt und durchstreiftes Land, einstige Nomaden und städtische Obdachlose.

Scheinbar ganz ethnographisch geben sich die Wüstenfotos von Akram Zaatari aus Beirut. Doch die von ihm gezeigten schwarz-weißen Bilder sind wahr und falsch zugleich. Sie sind montiert aus altem Material aus der durch den Künstler 1997 mitgegründeten Arab Image Foundation. Doch die in den Fotos des syrischen Bedouinenforschers Jibrail Jabbur in der Wüste stehenden Frauen erwecken einen eher städtischen Eindruck: Sie sind schon damals als Bedu nur verkleidet. In diesem Zugriff eines städtischen Wissenschaftlers auf die Nomaden zeigt sicht ein Fall von Binnenexotik, eines orienteigenen Orientalismus. Solche mehrfachen Zweifel an der Aura des Authentischen sind gerade im Kontext wissenschaftlicher Dokumentationen ethnologischer Museen interessant. Und doch behält das Dokumentarische seine Faszination: 501 Minuten lang in der Filmerzählung von 1992, in der Ulrike Ottinger Szenen aus der Taiga in epischer Zeitdehnung zeigt.

Die bildende Kunst begleitet hier die Abschlussausstellung des Sonderforschungsbereichs "Differenz und Integration", in dem 90 Wissenschaftler aus 15 Disziplinen in 50 Projekten elf Jahre lang gearbeitet haben. Dieser "Brisante Begegnungen" betitelten Nomaden-Ausstellung nebenan gibt die Berliner Künstlerin Bettina Hutschek in ihrem Video eine erstaunliche Interpretation: Sie behauptet, all dies sein vom Bundesnachrichtendienst in Auftrag gegeben, um kriminelle grenzüberschreitende Aktivitäten, Schmuggel und Terror besser zu verstehen. So befragt eine Kunstperformance die mögliche Indienstnahme der Ethnologie für die Interessen der Forschenden gegenüber den Beforschten.